Unterwegs

Kunst des Schlangestehens

Menschenschlange (Symbolbild)
Menschenschlange (Symbolbild)APA/AFP/AAMIR QURESHI
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In Russland herrschen strenge Prinzipien beim Warten. Im Prinzip.

Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin hat 1985 einen Roman mit dem Titel „Die Schlange“ geschrieben. Er handelt von einer immer länger werdenden Menschenschlange, einem Ungeheuer aus Fleisch und Blut voller Gerüchte, Ängste und Hoffnungen.

Die Schlange ist allen voran ein Symbol für die Zeit des Kommunismus, genauer: für die defizitäre Wirtschaft und das mangelnde Warenangebot. Noch heute üben Schlangen vor allem auf die ältere Generation eine ungeheure Anziehung aus. Nach dem Motto: Wenn Menschen Schlange stehen, muss es etwas geben. Ziemlich egal was.

An Bushaltestellen oder vor Kassenschaltern bilden sich die Menschentrauben wie von selbst. Das ist höchst vorbildlich. Die Spielregeln versteht die Ausländerin erst nach einiger Zeit. Beispielsweise ist es üblich zu fragen: „Wer ist der Letzte?“ – Denn der letzte Mensch, der in der Schlange steht, muss nicht der Letzte überhaupt sein. Möglich, dass er Plätze „freihält“ und sich vor einem noch andere Wartende einordnen werden, die in der Zwischenzeit Besseres zu tun haben.

Diese Schlangenordnungsprinzipien gelten im Prinzip. Aber die Realität ist dann doch oft ganz anders. Ich behaupte, dass die Russen nicht mehr so disziplinierte Schlangensteher sind, wie sie es einmal waren. Regelmäßig kann man beobachten, wie Damen und Herren sich unauffällig weiter vorn einschieben. Ohne „Reservierung“ und besonderen Grund. Die Rücksichtslosigkeit des Westens hat sich ihren Weg bis in die slawische Schlange gebahnt. In diesem, aber wirklich nur in diesem einen Fall, hätte ich nichts dagegen, wenn die russische Welt sich durchsetzt.

jutta.sommerbauer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2017)

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