Kiew und die Separatisten tauschten mehr als 300 Gefangene aus. Mehrere Ex-Häftlinge wollten nicht in das Separatistengebiet zurück.
Majorsk/Moskau. Zwischen dem letzten ukrainischen Checkpoint und dem ersten Kontrollposten der Separatisten liegen ein paar Hundert Meter. Auf einem schmalen Korridor im Niemandsland bei der Ortschaft Majorsk fand gestern der größte Gefangenenaustausch zwischen den Konfliktparteien seit Beginn des Ukraine-Krieges statt. Insgesamt 380 Gefangene sollten zwischen Kiew und den Luhansker und Donezker Separatisten die Hand wechseln. So weit der Plan.
Die Vorbereitungen glichen sich auf beiden Seiten: Die Gefangenen wurden in Bussen zu dem Übergang gefahren, wo normalerweise Zivilisten auf die Passage in die durch die Frontlinie getrennten Gebiete warten. Bewaffnete sicherten die Umgebung. Der Austausch fand in mehreren Durchgängen statt. Die ersten 16 Freigelassenen auf ukrainischer Seite wurden mit einem Helikopter zunächst nach Charkiw geflogen und sollten daraufhin nach Kiew überstellt werden. Während auf der von den Regierungskräften kontrollierten Seite Medienvertreter und Angehörige auf die Freigelassenen warteten, gab es von der Seite der von Moskau unterstützten Separatisten zunächst keine Bilder. Der österreichische Diplomat und OSZE-Sonderbeauftragte Martin Sajdik sprach von einer „zutiefst humanitären Geste, vor allem angesichts von Weihnachten und dem neuen Jahr“.
Den letzten Gefangenenaustausch hatte es im September 2016 gegeben. Damals kreuzten sechs Menschen die Seiten.
Zähe Verhandlungen in Minsk
Der gestrigen Freilassung waren zähe Verhandlungen vorangegangen. Laut dem Minsker Abkommen vom Februar 2015 ist ein Austausch nach der Formel „Alle gegen alle“ vorgesehen. Dieser hätte spätestens am 19. Tag nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens vonstatten gehen sollen. Und auch nach dem gestrigen Austausch sind nicht alle Gefangenen auf beiden Seiten frei. Laut der ukrainischen Vizeparlamentspräsidentin und Minsk-Verhandlerin Iryna Geraschenko befinden sich noch 170 ukrainische Staatsbürger in den Händen der Separatisten. Die Separatisten sprechen von 97 Personen.
Auch in Minsk wurde wieder um die Zahlen gefeilscht. Denn aufgrund der fortgeschrittenen Rechtsprechung stand man vor einem Dilemma: 43 Personen, die die Separatisten ihrerseits genannt haben, hatten in der Ukraine bereits ihre Gefängnisstrafe abgesessen. Sie konnten also nicht – wie von der Gegenseite gefordert – einfach „zurückgegeben“ werden.
Dies machte sich auch gestern bemerkbar, als auf der Regierungsseite nicht alle 306 Personen anwesend waren. Vor Ort weigerten sich Medienberichten zufolge mehrere Menschen, in die Separatistengebiete transferiert zu werden. Von ukrainischer Seite hatte es zuletzt geheißen, dass keine Unbescholtenen gegen ihren Willen getauscht werden sollten. Der TV-Sender Hromadske berichtete schließlich von 238 nach Donezk und Luhansk übergebenen Menschen. Die Separatisten müssen gewusst haben, dass sie die gewünschte Zahl verfehlen werden. Offenbar wollten sie den Austausch aber nicht platzen lassen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2017)