Experte über Kurz: "Dass er pro-aktiv für Europa ist, sehe ich nicht"

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP)
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP)APA/HANS KLAUS TECHT
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Österreich betreibe schon seit Jahren der EU gegenüber eine schizophrene und populistische Politik, sagt Integrationsexperte Güngör.

Wenn Bundeskanzler Sebastian Kurz am Mittwoch zu seiner deutschen Amtskollegin Angela Merkel nach Berlin reist, dann will er damit die "pro-europäische Ausrichtung" seiner schwarz-blauen Regierung unter Beweis stellen. Der Experte Kenan Güngör bezweifelt indes, ob Kurz tatsächlich so agiert. "Ich würde ihn als europäisch einstufen, aber dass er pro-aktiv für Europa ist, sehe ich nicht", sagte Güngör am Dienstag.

Mit gleichlautenden Argumenten hatte Kurz auch für seine Visite bei Frankreichs Präsidenten Emanuel Macron am vergangenen Freitag geworben. Der Soziologe und Integrationsexperte Güngör beurteilt die tatsächliche bisherige EU-Politik des ÖVP-Kanzler diesbezüglich hingegen eher skeptisch: "Es ist ein Unterschied, ob ich mich in Europa für Europa engagiere oder mich in Europa für Österreich einsetze." Anders ausgedrückt: "Es ist die Frage, ob Europa ein Verbund von Einzelinteressen ist oder ob es ein gemeinsames europäisches Interesse gibt." Österreichs Politik richte sich derzeit nach dem ersten Punkt aus.

Das Regierungsprogramm der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung spreche diesbezüglich eine klare Sprache, so der 1969 in der Türkei geborene Experte, der in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland, der Schweiz und Österreich lebte und forschte. Seit 2007 betreibt er in Wien das Beratungs- und Forschungsbüro "think.difference".

Schizophrene und populistische Politik

Österreich betreibe schon seit Jahren der EU gegenüber eine schizophrene und populistische Politik. "Nämlich jene, zu sagen, wir sind zwar in der EU, wollen sie aber nicht. Es gibt da dieses Lächerlichmachen der EU. Es gibt diese Tendenz, in der Europäischen Union eine Anti-EU-Position einzunehmen und immer die nationale Karte zu spielen." Das mache sowohl die ÖVP, "obwohl die ursprünglich am pro-europäischsten war", aber auch die SPÖ und die FPÖ. Diese habe ja vor gar nicht all zu langer Zeit mit einem "Öxit" geliebäugelt, ehe sie durch die "Brexit"-Diskussion erkannt habe, dass ein Ausstieg Österreichs aus der Europäischen Union vielleicht doch nicht so populär und opportun wäre.

Der Kanzler müsse daher derzeit einen Spagat hinlegen, analysierte Güngör: "Er muss sich EU-kompatibel zeigen und den Pro-Europäer darstellen, allerdings muss er auch seinem Koalitionspartner gerecht werden." Verklausuliert werde dies etwa durch die Forderung nach einer "Subsidiarität" innerhalb der EU. Die Bemühungen von Macron, Merkel oder den Beneluxländern gingen aber in eine andere Richtung: "Sie wollen eine größere europäische Integration vorantreiben, mehr gemeinsame Außen-, Sicherheits- und auch Migrationspolitik, eine stärkere Harmonisierung." Österreichs aktuelle Regierung stehe unter Kurz' Führung indes tendenziell aufseiten jener osteuropäischen Länder, die "eher ein schwaches europäisches Gebilde sehen wollen." Nachsatz: "Das kommt wiederum den Amerikanern und Russen entgegen."

Zwar sei Kurz im Gegensatz zu anderen Politikern in Österreich in der Flüchtlingsfrage "nie gehässig" geworden, er habe aber schnell erkannt, "was opportun ist". Kurz und sein Team hätten ein gutes "G'spür" dafür, was bei der Bevölkerung ankomme. "Er sah, dass sich seine Enttäuschung mit der Skepsis vieler Österreicher deckte und er konnte aus dieser Skepsis politisches Kapital schlagen."

Auf einen Blick

Bundeskanzler Sebastian Kurz wird am Mittwoch und Donnerstag in der deutschen Hauptstadt Berlin neben seiner Amtskollegin Angela Merkel auch den Bundestagspräsidenten und früheren Finanzminister Wolfgang Schäuble (ebenfalls CDU) und den aus der Sozialdemokratie (SPD) stammenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier treffen. Zudem ist laut seinem Büro ein Solo-Auftritt in der TV-Talkshow von Sandra Maischberger (ARD) sowie ein "hochkarätiges Abendessen" im "Axel-Springer-Haus" vorgesehen, zu dem sich unter anderen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Staatssekretär Jens Spahn (beide CDU) sowie die österreichische Schauspielerin Sonja Kirchberger und der österreichische Bundesliga-Fußballcoach Ralph Hasenhüttl (RB Leipzig) angesagt haben.

(Edgar Schütz/APA)

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