Leitartikel

Der Fall Deniz Yücel zeigt, wie fragil die Pressefreiheit ist

Deniz Yücel mit seiner Frau.
Deniz Yücel mit seiner Frau.(c) REUTERS (STRINGER)
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Nach einem Jahr in Haft kommt der „Welt“-Korrespondent endlich frei. Am selben Tag werden andere Journalisten zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

Erst am Donnerstag, als der türkische Premier Binali Yıldırım in Berlin weilte, betonte er bei der Pressekonferenz mit Angela Merkel: „Die Türkei ist ein Rechtsstaat.“ Die Justiz agiert also unabhängig und lässt sich von der Politik nicht beeinflussen. Es ist in den vergangenen Jahren, vor allem seit dem gescheiterten Putsch 2016, derart viel passiert in der Türkei, dass sich diese These des Premiers eigentlich schnell widerlegen lässt. Nur ein kleines Beispiel: Die regierende AKP hat sich weitreichenden Einfluss gesichert, was die Besetzung des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte betrifft.

In Berlin sagte Yıldırım auch, er hoffe, dass der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel bald freikomme. Einen Tag später wird der seit einem Jahr inhaftierte Journalist tatsächlich freigelassen. In den Wochen zuvor haben deutsche Diplomaten im Hintergrund den Druck auf die Türkei erhöht, denn Ankara und Berlin wollen ihre schwer lädierten Beziehungen wieder normalisieren – und Deutschland hat mehr als einmal signalisiert, dass ein besserer bilateraler Dialog nicht zustande kommen wird, solange Yücel in Haft sitzt.

Yıldırım hat sich zwar überraschend wohlwollend zum Fall Yücel geäußert, aber bis dahin hat die regierungsnahe türkische Presse den Journalisten monatelang als Spion, als Agenten, als PKK-Terroristen abgestempelt. Der Fall Yücel ist ein Polit-, Medien- und Justizskandal: Er wurde breitenwirksam vorverurteilt, er steckte ein Jahr lang ohne Anklage in U-Haft, ohne Beweisführung für eine eventuelle Schuld. Selbst Präsident Recep Tayyip Erdoğan nannte ihn einen Spion, sagte, dass Yücel niemals freikommen werde, solang er Präsident sei. Was ist das, wenn nicht ein direktes Reinreden in die Justiz? Yücel war ein Jahr lang unfrei, allein aufgrund seiner Berichterstattung. Seine Verhaftung war eine politische Entscheidung, und seine Freilassung ist es ebenso. Die Beziehungen zu Deutschland sind enorm wichtig, also hat Ankara eingelenkt.

Yücel, er ist deutsch-türkischer Doppelstaatsbürger, hat am Freitag das berüchtigte Gefängnis Silivri nahe Istanbul verlassen und war ersten Informationen zufolge am Nachmittag auf dem Weg zum Flughafen. Die Staatsanwaltschaft hat mittlerweile auch eine Anklageschrift vorgelegt und verlangt 18 Jahre Haft für Yücel. Auf den Journalisten rollt noch ein Verfahren zu, und wer die politisch motivierten Prozesse in der Türkei kennt, der weiß: Das kann Jahre dauern.

Der Fall Yücel hat international viel Aufmerksamkeit erregt, daher ist das Urteil eines türkischen Gerichts, das ebenfalls am Freitag fiel, fast untergegangen. Sechs Medienschaffende wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, darunter die Brüder Altan – der Publizist und Autor Ahmet, der Wirtschaftsprofessor Mehmet – sowie die regierungskritische Journalistin Nazlı Ilıcak. Die Brüder sollen über versteckte Botschaften – etwa bei Fernsehauftritten – den Putsch angekündigt haben. Ilıcak soll der Gülen-Bewegung angehören, die für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich gemacht wird. Der Fall Mehmet Altan zeigt erneut, wie „unabhängig“ die türkische Justiz tatsächlich ist: Das Verfassungsgericht hat eigentlich entschieden, dass die lange U-Haft gegen seine Rechte verstoße. Das Strafgericht hat dieses Urteil aber einfach nicht umgesetzt, höchstwahrscheinlich deswegen, weil Justizminister Bekir Bozdağ befand, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts „Grenzen überschritten“ habe.


„Pressefreiheit wahren“ ist keine Floskel, es ist harte Arbeit und unabdingbarer Teil einer funktionierenden Demokratie, das kann man gar nicht oft genug sagen. Dabei ist die Türkei nur ein journalistisches Kampffeld von vielen. Erst vor wenigen Tagen ist ein usbekischer Redakteur nach sechs Monaten Gewahrsam aus einem russischen Gefängnis entlassen worden. In Tunesien sind vier Journalisten festgenommen und tagelang befragt worden. In Mexiko ist Journalismus lebensgefährlich, in Ungarn und Polen lässt sich der Einfluss der Politik auf die Medien nicht mehr wegdiskutieren. Donald Trumps Fake-News-Tiraden werden so schnell auch nicht mehr aufhören. Diese Liste ließe sich noch lang fortsetzen.

E-Mails an:duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2018)

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