Kern und Nahles: "Wir haben an den Leuten vorbei geredet"

David Payr/Dominik Butzmann
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Die künftige SPD-Chefin Andrea Nahles und SPÖ-Vorsitzender Christian Kern über Wege aus der Krise der Sozialdemokratie, Fehler im Wahlkampf und ein rotes Koalitionsangebot an Sebastian Kurz. Eine Konferenzschaltung.

Ralf Dahrendorf hat 1983 das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ verkündet. Das war damals vielleicht etwas verfrüht. Aber jetzt ist es so weit. Die Sozialdemokratie ist in ganz Europa in der Krise. Warum?

Christian Kern:
Andrea, machst du den Anfang?

Andrea Nahles: Die sozialdemokratischen Parteien haben zur Jahrtausendwende auf den vorherrschenden neoliberalen Diskurs reagiert und überall auf der Welt versucht, einen dritten Weg zu formulieren. Damals wurde ein entscheidender Fehler gemacht.

Und zwar?

Nahles:
Die SPD und die SPÖ haben seit jeher ihre Konzepte an einem handlungsfähigen Staat festgemacht. Doch dann hat die Sozialdemokratie den Gerechtigkeitsdiskurs gegen einen Chancendiskurs eingetauscht, der sich am neoliberalen Geist dieser Zeit ausrichtete. Wir haben die Globalisierung als alternativlos dargestellt und erklärt, sie als Chance begreifen zu müssen. Das war ökonomisch nicht falsch. Aber das war zu eng gefasst, Globalisierungsverlierer sahen sich nicht mehr durch uns vertreten.

Parteipolitisch war der „Dritte Weg“ ein Erfolg. Von Schröder bis Blair kamen Sozialdemokraten Ende der 1990er auf 40 Prozent.

Nahles:
Anfangs ja. Aber langfristig war diese Verengung fatal.

Kern: Nach Ausbruch der Finanzkrise, Reallohnverlusten und steigender Arbeitslosigkeit waren unsere Erklärungsmuster diskreditiert. Dann kam die Migrationskrise und bot den Menschen eine sehr einfache Antwort: „Ein anderer nimmt dir deinen gerechten Anteil am Wohlstand weg: der Flüchtling.“

Nahles: Ja, dadurch wurde der Konflikt ethnisiert. Es war 2015 ein Gebot der Humanität, Flüchtlinge aufzunehmen. Dazu stehe ich. Mich ärgert aber, dass wir die Ethnisierung dieses Konflikts unterschätzt haben. Wir haben abgeblockt und konkrete Alltagserfahrungen, die Aufmerksamkeit verdient hätten, zu schnell und pauschal unter Rechtsextremismus-Verdacht gestellt.

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