Wie frustriert muss man sein, um Erdoğan die Treue zu halten?

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Mit seiner Österreich-Beleidigung erweist der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, seinen „Landsleuten“ wieder einmal einen Bärendienst.

Soso, Bundeskanzler Sebastian Kurz und die Österreicher würden also „durchdrehen“, weil in Österreich mehr als 200.000 Türken leben und die Türkei auf der politischen Weltbühne immer stärker werde. Der „unmoralische Kanzler“ sei abgehoben, ziehe eine Show ab und habe Probleme mit der Türkei.

Eine weitere, nennen wir es, eigenwillige Episode aus dem Blickwinkel des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan – nachzusehen auf einem verwackelten Video, das derzeit in sozialen Netzwerken die Runde macht. In dieser Rede vor seinen Anhängern fällt auch der spöttische Satz: „Wir sind G20-Mitglied, und die räumen nur hinter uns auf. Sie haben es nicht dort hineingeschafft.“

Erdoğan, der über sich gern in der dritten Person spricht, ist bekanntermaßen nicht zimperlich, wenn er der Welt seine persönlichen Beobachtungen mitteilt und dabei auf eine kompromisslose, um nicht zu sagen derbe Sprache zurückgreift. Darauf legt er (wie im Übrigen auch einige seiner AKP-Parteikollegen – man denke an den „Verpiss dich“-Sager des Abgeordneten und Erdoğan-Beraters Burhan Kuzu in Richtung des damaligen Kanzlers Christian Kern im März 2017) nicht nur großen Wert, er zelebriert das geradezu als Imagepflege. Frei nach der Devise: „Das wird man wohl noch sagen dürfen.“ Er sei nun einmal ein Mann der klaren Worte. Seine Adressaten sollten nicht so empfindlich sein. Nun, dasselbe gilt dann aber auch für ihn. Daher hier eine alternative Sichtweise zu Erdoğan und seinen sogenannten Beobachtungen.

Die Einzigen, die in Österreich „durchdrehen“, sind Tausende Türken, weil sie ständig von jemandem in Verlegenheit und Erklärungsnot gebracht werden, der sie gern als seine „Landsleute“ bezeichnet, dessen Land diese Menschen aber jahrzehntelang im Stich gelassen hat und die in der Türkei bis heute als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Gemeint sind natürlich die vielen Millionen Gastarbeiter und ihre Nachkommen, die seit den 1960er-Jahren in Ländern wie Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Österreich leben. Sie sind seit jeher die Stiefkinder der Türkei. Zum einen, weil viele von ihnen (wenig überraschend) nicht gut Türkisch sprechen und als ungebildet und unkultiviert gelten, und zum anderen, weil man sie für das teilweise negative Image der Türken in Europa verantwortlich macht.

Denn was in Europa viele nicht wissen: Bei Integrationsproblemen mit der türkischen Community beispielsweise in Deutschland und Österreich gibt es in der türkischen Gesellschaft selten Solidarisierung mit den „Deutschländern“, wie die türkische Diaspora abfällig bezeichnet wird. Selbst schuld, lautet die vorherrschende Meinung. Gern gesehen sind Deutschländer in der Türkei vor allem dann, wenn sie ihre Jahresurlaube dort verbringen und mit Investitionen die Wirtschaft ankurbeln.

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang daher aufdrängt: Wie groß muss der Frust unter Türken in Österreich und Europa sein, dass sie Erdoğan und sein Regime trotz dieser regelmäßigen Bärendienste die Treue halten? Ist das eine bizarre Form des Stockholm-Syndroms, im Zuge dessen man mit jemandem sympathisiert, obwohl man unter ihm leidet?

Aber warum? Was steckt dahinter? Geht es nur darum, den jeweils eigenen Regierungen kräftig eins überzuziehen, um sie auf ihre eigenen Versäumnisse aufmerksam zu machen – egal, mit welcher Keule? Nur, was soll das bringen? Mit wem verbündet man sich da eigentlich? Rechtfertigt der Zweck jedes Mittel? Oder glaubt wirklich irgendjemand, dass Erdoğan der Schutzpatron der Auslandstürken ist?

Vielleicht ist es für Türken in Europa an der Zeit, zutiefst menschliche und nachvollziehbare Emotionen wie etwa die eigene Unzufriedenheit im Leben beiseitezulassen, ebenso wie irgendwelche idealisierten Kindheitserinnerungen und Fantasien der Rückkehr in der Pension, und sich die Frage zu stellen: Welcher Präsident, der sich um seine Landsleute im Ausland sorgt und für ihre Interessen einstehen will, redet so über das Land, in dem sie leben?

("Die Presse", Printausgabe, 05.06.2018)

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