Die weltweite Epidemie der Kurzsichtigkeit

Elektronik und Kinder: nicht zu früh, nicht zu nah, nicht zu lang.
Elektronik und Kinder: nicht zu früh, nicht zu nah, nicht zu lang.Mint Images / picturedesk.com
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In Asien ist die Myopie schon lange ein Problem, jetzt zieht Europa nach. Bis 2050 könnte die Hälfte der Weltbevölkerung kurzsichtig sein. Schuld sind zu viel Arbeit in der Nähe, inklusive Handy, und Hocken in der Stube. Wirklich hilft nur eins: Nix wie raus!

Bei Theodor begann das Problem wie bei vielen anderen Kindern seines Alters auch. Den Eltern war zwar immer wieder aufgefallen, dass ihr Sohn ein bisschen nah an den Fernseher heranrückte, wenn ein Fußballspiel lief; dass er Buch und Handy mitunter knapp vors Gesicht hielt. Doch auf die Frage, ob er ein Problem habe, in die Ferne zu sehen, sagte Theodor immer glaubhaft Nein. Bis zur ersten Klasse Gymnasium, als er in der letzten Reihe landete und plötzlich nicht mehr erkennen konnte, was vorn an der Tafel stand. Beim Augenarzt war der Schock groß. Theodor war kurzsichtig – und er hatte bereits drei Dioptrien.

Peter Gorka überrascht dieser Befund nicht. „Kinder können einige Dioptrien kompensieren“, sagt der Präsident der Österreichischen Ophthalmologischen Gesellschaft. Auch Gabriele Seher, Vorsitzende der Vereinigung kontaktlinsenanpassender Augenärzte, kennt das Problem aus der Praxis: „Bis zu einem gewissen Alter nehmen Kinder die Welt, wie sie sie sehen. Sie beschweren sich nicht bei den Eltern, dass etwas unscharf ist.“

Deshalb wird Kurzsichtigkeit bei den meisten Kindern auch erst im Alter von sieben Jahren entdeckt (Schulmyopie), die häufigsten Veränderungen treten zwischen acht und 15 Jahren auf. Österreichs Augenärzte schlagen jetzt allerdings nachdrücklich Alarm und warnen davor, die Diagnose zu verschleppen. Die Kurzsichtigkeit ist nämlich im Begriff, sich zu einer weltweiten Epidemie auszuwachsen. Bis zum Jahr 2050, warnt eine Studie des australischen Brien-Holden-Instituts, könnten bereits 50 Prozent der Weltbevölkerung davon betroffen sein.

Kurzsichtigkeit (Myopie) entsteht, wenn das Auge zu sehr in die Länge wächst und Augenlänge und Brennweite nicht mehr genau übereinstimmen. Dadurch kommt die scharfe Abbildung vor der Netzhaut zu liegen und man kann in der Ferne nicht mehr scharf sehen. Eine Verlängerung des Auges um einen Millimeter, von 24 auf 25 Millimeter, erzeugt etwa 2,7 Dioptrien Kurzsichtigkeit. „Ausgewachsen“ ist das Auge in der Regel im Alter von 25 Jahren. Je früher die Fehlsichtigkeit beginnt, umso höher sind normalerweise auch die erreichten Endwerte.

Myopie wird von der Gesellschaft allerdings als eher harmloses Problem wahrgenommen, das mit einer schicken Brille oder Kontaktlinsen leicht zu lösen ist. Doch das ist ein Irrtum, denn diese Sehbehelfe wirken nur als Korrektiv und können die Kurzsichtigkeit weder heilen noch ihren Fortschritt bremsen. In höherem Alter drohen schwere Folgen wie eine Netzhautablösung, ein Grüner Star (Glaukom) oder eine myope Gefäßneubildung. „Die Kurzsichtigkeit wird 2050 die häufigste Ursache für Erblindung sein und damit den Grauen Star ablösen“, schreibt Herbert Reitsamer, Vorstand der Universitätsaugenklinik Salzburg.

Die Kurzsichtigkeit ist allerdings keine Augenkrankheit, die Menschen in unterentwickelten Regionen betrifft. Sie ist – salopp gesagt – eine Krankheit der Wohlhabenden und der Gebildeten und damit der gesellschaftlichen Alphatiere. Das zeigt sich in den ostasiatischen Ländern, die bereits seit längerer Zeit mit den endemischen Ausmaßen der Kurzsichtigkeit kämpfen. „In Korea oder Taiwan liegt die Myopie-Rate bei 95 Prozent“, sagt Peter Gorka. „Auf Fotos von Schulabschlussfeiern sieht man nur junge Menschen mit Brillen. Die, die keine tragen, haben entweder Kontaktlinsen oder sind bereits gelasert.“

Der Lifestyle ist schuld

Der Grund dafür liegt nicht in der Genetik. Zwar spielt diese eine Rolle, deren Faustregel lautet: Kinder mit einem kurzsichtigen Elternteil haben ein 25-prozentiges Risiko, ebenfalls kurzsichtig zu werden; Kinder mit zwei betroffenen Elternteilen ein 50-prozentiges Risiko.

Erblich bedingte Faktoren allein reichen nicht aus, um die rapide Zunahme innerhalb von zwei Generationen zu erklären. Dafür, so die Experten, müsse schon der Lifestyle geradestehen, wobei zwei Faktoren eine unheilvolle Allianz eingehen: die Zunahme der Naharbeit in jeder Form und in immer jüngerem Alter (Handy, Computer, Lesen, Studieren) und die damit verbundene verringerte Exposition im Freien. Gesellschaftliche Entwicklungen wie die immer frühere Verschulung der Kindheit und immer längere Aufenthalte in Bildungseinrichtungen ohne die Möglichkeit, Zeit im Freien zu verbringen, könnten das Problem in Zukunft noch verschärfen.

„Es ist ganz einfach: Stubenhocker werden besonders kurzsichtig“, erklärte Peter Gorka vor Kurzem bei einem Vortrag vor österreichischen Augenärzten. Die wichtigste Maßnahme, um die Entwicklung von Kurzsichtigkeit zu verhindern, so lange wie möglich hinauszuzögern oder zumindest ihren Fortschritt zu bremsen, sei gleichzeitig eine einfache: „Weg mit dem Handy und hinaus ins Freie.“

„Keep myopia away, go outdoors and play“ steht auch auf dem Plakat, das in der Ordination von Augenärztin Ursula Scholz hängt. Wie ihre Kollegen empfiehlt auch sie, dass Kinder sich jeden Tag mindestens zwei Stunden im Freien aufhalten sollten. Und zwar nicht, indem sie mit einem Buch unter einem schattigen Baum sitzen, sondern, indem sie im wahrsten Sinn ihren Horizont erweitern und in die Ferne schauen. „Der Grund ist, dass das UV-Licht die Ausschüttung von Dopamin anregt. Dopamin hemmt wiederum das Wachstum der Augenlänge, das ja für die Kurzsichtigkeit verantwortlich ist“, sagt Scholz.

Diese Erkenntnis ist nicht neu. Der Einfluss der Helligkeit auf die Kurzsichtigkeit wurde bereits 1860 von Hermann Crohn beschrieben. Seither haben sich die Studien zu diesem Thema vervielfacht – und auch bereits erste konkrete Maßnahmen und Schlussfolgerungen nach sich gezogen. In Singapur etwa – wo laut einem Bonmot der durchschnittliche Teenager bis zum Alter von 18 Jahren nichts gesehen hat, was weiter als sieben Meter entfernt ist – wird mit gläsernen Schulgebäuden experimentiert, die ein Maximum an Tageslicht in den Raum lassen. Selbst in einem gut ausgeleuchteten Zimmer wurde nämlich nur eine Beleuchtungsstärke von etwa 500 bis 800 Lux gemessen, im Freien hingegen zwischen 10.000 und 50.000 Lux.

In Taiwan schickt das Erziehungsministerium alle Schulkinder zwei Stunden pro Tag ins Freie. Zusätzlich wurde die „3010“-Regel eingeführt – 30 Minuten Naharbeit, zehn Minuten Unterbrechung –, und die Tischhöhen wurden so angepasst, dass der Leseabstand größer wurde. Seit 2012 soll dadurch die Kurzsichtigkeit in der ersten Klasse von 50 auf 45 Prozent zurückgegangen sein, nachdem sie jahrelang angestiegen war, heißt es in einem Papier, das Frank Schaeffel vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde an der Universität Tübingen verfasste.

„Schicken Sie Ihre Kinder hinaus“, lautet daher der dringende Appell der Augenärzte. Das sei vor allem im Alter von acht, neun Jahren wichtig, wenn bei vielen Kindern die Kurzsichtigkeit auftritt. Eltern müssten sich aber auch nicht allzu sehr unter Druck setzen. Wer nicht jeden Tag einen „Freigang“ von zwei Stunden schaffe, der könne das auch am Wochenende nachholen. Wobei – unter Beachtung der üblichen Vorsichtsmaßnahmen – gilt, dass Sonne besser als Schatten ist. Deshalb sei es bei normalem mitteleuropäischem Tageslicht auch nicht notwendig, Kindern immer Sonnenbrillen aufzusetzen, meint Gorka.

Das Licht macht's aus

Unscharf sind hingegen die Schlussfolgerungen zu dem Thema, das alle Eltern wohl am meisten interessiert: Wie schlecht ist das Handy für die Augen der Kinder? Hier liegen noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Grundsätzlich warnen aber alle Augenärzte davor, dass Kinder zu früh, zu lange und zu nahe mit elektronischen Geräten hantieren. Auch Ursula Scholz, die „jedes Mal wie eine Tarantel ins Wartezimmer saust und die Eltern von Zweijährigen auffordert, ihren Kindern das Mobiltelefon wegzunehmen“. Wichtig seien die Lichtverhältnisse, regelmäßige Pausen und der Leseabstand. Aus China gebe es sogar Studien, die – vereinfacht gesagt – zu dem Schluss kommen, dass das Handy draußen besser ist als das Buch drinnen. Oder am besten keins von beiden – zumindest nicht, ohne möglichst oft, weit und lange den Blick in die Ferne schweifen zu lassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2018)

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