Erdoğans Wiederwahl vertieft die Eiszeit zwischen Europa und Ankara. Pragmatismus in Sachen Migration und Terror ist nun gefordert.
Brüssel. Die Wiederwahl des türkischen Präsidenten, Recep Erdoğan, verhärtet das Dilemma der Europäischen Union im Umgang mit der Türkei: Einerseits hat der Umbau des Landes durch Erdoğan zu einem autoritären Regime, in dem Oppositionsführer, Journalisten, Bürgerrechter und Zehntausende Staatsbedienstete als vermeintliche Staatsfeinde inhaftiert sind, jegliche politische Annäherung verunmöglicht. Angesichts Erdoğans klarem Wahlsieg kann man auch nur schwerlich argumentieren, dass das türkische Volk diese Wendung hin zum totalitären Staat mehrheitlich ablehnen würde.
Andererseits jedoch sind die Europäer den Türken in zwei wesentlichen Bereichen mehr oder weniger alternativlos ausgeliefert. Weder der Migrationsdruck aus dem Nahen Osten noch die Gefahr, welche heimkehrende europäische Terroristen des Islamischen Staates ausstrahlen, können ohne eine professionelle Zusammenarbeit mit der Regierung in Ankara in den Griff bekommen werden.
Türkei als EU-Wahlkampfschlager
Entsprechend schmallippig war die offizielle Stellungnahme der Europäischen Kommission am Montag. „Wir hoffen, dass die Türkei unter der Führung von Präsident Erdoğan ein engagierter Partner in großen Fragen gemeinsamen Interesses für die Europäische Union bleibt, wie zum Beispiel Migration, Sicherheit, regionale Stabilität und der Kampf gegen Terrorismus“, verlas ein Sprecher von Kommissionschef Jean-Claude Juncker die Position Brüssels.
Nüchtern betrachtet bemüht man sich nun, die relativ gut funktionierende Übereinkunft mit der Türkei über die Rücknahme illegal auf die griechischen Inseln gekommener Flüchtlinge im Gegenzug für drei Milliarden Euro aus dem Unionsbudget für die Versorgung der mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei fortzusetzen. Der alte und neue türkische Präsident drängt recht unverhohlen darauf, weitere drei Milliarden Euro aus Brüssel zu erhalten. Derzeit ist jedoch noch nicht die gesamte ursprüngliche Summe verplant – und zudem prüft der Europäische Rechnungshof, ob dieses Geld in der Türkei wirklich sinnvoll verwendet wird, um den Flüchtlingen zu helfen.
Wesentlich konfliktträchtiger ist die Frage, wie es mit den eingefrorenen Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei steht. Für den formalen Abbruch gibt es derzeit unter den nationalen Regierungen keine Mehrheit. Das Argument: Man könne die Verhandlungen im Falle einer Verbesserung der Beziehung zu Ankara schneller aus dem Tiefkühlfach holen, als sie neu zu beginnen.
Allerdings lassen die Europawahlen im Mai nächsten Jahres eine Verschärfung der öffentlichen Debatte erwarten. Im 72-seitigen Programm der Bundesregierung für den am 1. Juli beginnenden österreichischen Ratsvorsitz wird die Türkei mit keinem Wort erwähnt. Im Regierungsprogramm von Türkis-Blau hingegen heißt es, man wolle „Verbündete zur Erreichung des endgültigen Abbruchs der EU-Beitrittsverhandlungen zu Gunsten eines Europäisch-Türkischen Nachbarschaftskonzeptes“ suchen. Wie dieses aussehen soll, ist bisher unklar.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2018)