Leitartikel Sollte Pamela Rendi-Wagner bereit sein, sich das Himmelfahrtskommando anzutun, sollte die SPÖ ihr besseres Personal geben als zuvor Christian Kern.
Es ist an dieser Stelle eine vielleicht unübliche Übung, aber möglicherweise hilft sie, das Unverständliche besser zu verstehen. Versuchen wir die Vorgänge, die zum stufenweisen Rück- und Übertritt von Christian Kern führten, aus der Perspektive der Sozialdemokratie zu sehen und zu beurteilen. Ja, stimmt schon, Kern hielt nicht, was er und seine Anhänger aus der Publizistik und den SPÖ-Zwergen-Landesorganisationen versprachen. Als Spitzenkandidat war Kern überschätzt, und JVP-Minister Sebastian Kurz unterschätzt.
Diese Fehleinschätzungen und ein schlechter Wahlkampf führten zur ersten Niederlage der SPÖ als Kanzlerpartei gegen einen ÖVP-Herausforderer bei einer Wahl. Aber ehrlich: Was sind fünf oder zehn Jahre bitte schön in einer mehr als 100 Jahre andauernden politischen Erfolgsgeschichte der SPÖ, in der es immer Auf und Ab gab? Beim letzten Mal Schwarz-Blau schaffte es dann sogar ein intellektueller Slim-Fit-Gegner, der Bordeaux der Basis eindeutig vorzog, den ÖVP-Kanzler zu vertreiben. Also drohten bis vergangene Woche im schlimmsten Fall neuneinhalb Jahre, bis die aus roter Sicht türkis-blaue Anomalie beseitigt würde. Doch dann wurde Christian Kern aktiv. Beziehungsweise seine Parteifreunde und -feinde.
Aber so undramatisch die Situation für die SPÖ möglicherweise war, so düster war sie für Kern. Auf der Oppositionsbank sitzen, um dann gegen ein neues Gesicht für den Wahlkampf ausgetauscht zu werden? Weiterhin nicht jene Jobangebote aus der Wirtschaft bekommen, die es damals in der Zeit als ÖBB-Chef gegeben haben soll? Ständig Zielscheibe der frustrierten Parteifreunde sein? Kein Glamour und keine Entscheidungsgewalt.
Christian Kern trat die Flucht nach vorn an, kündigte im kleinen Kreis seinen Rücktritt als Parteichef an, plante seine Nachfolge mit Pamela Rendi-Wagner als neuer Parteichefin und nahm einen Ball auf, den ihm andere in der Partei zugespielt hatten: Theoretisch gäbe es da eine letzte Möglichkeit, die schmerzende Niederlage gegen Sebastian Kurz quasi auszumerzen. Was, wenn Kern die EU-Liste der SPÖ anführte und dann seine Kandidatur für die gesamte EU-Liste der SPE ankündigte? Was, wenn er dann auch mangels besserer Kandidaten wirklich nominiert würde? Was, wenn die zu erwartende Wahlniederlage in der Gesamt-EU kleiner ausfiele? Was, wenn es dann tatsächlich zu einer Dreier-Koalition mit Konservativen und Liberalen käme? Was, wenn Kern dann EU-Außenminister werden würde? Dann würde Sebastian Kurz als kleiner Kanzler Österreichs nicht mehr lächeln. Das sind viele „Wenn“, aber Christian Kern hat wenig bis nichts zu verlieren.
Doch das gefiel nicht allen in der Partei, das klang nach zu viel Entscheidungsgewalt für einen Wahlverlierer. Also wurde der halbe Plan breit publik gemacht. Und zwar nicht von einem einzelnen Wiener Pressesprecher. Das Team Michael Ludwig arbeitet mehr an der Einheit der SPÖ als manche denken.
Viel wichtiger als das persönliche Schicksal Kerns ist nämlich die SPÖ. Ja, wie schon festgehalten, braucht dieses Land eine funktionierende Opposition, die nur die SPÖ anführen und in der Breite darstellen kann – wie wir beim BVT-Skandal erleben mussten, gehören Zurückhaltung, staatspolitische Räson und Sensibilität nicht gerade zu den Stärken der türkis-blauen Regierung. Vor allem aber: Dass reihenweise Kandidaten der Partei für den Parteichef absagen, klingt nach einer strukturellen Problematik in der Partei. Der Blick auf andere Länder sollte uns warnen, dass sowohl christdemokratische als auch sozialdemokratische Parteien völlig von den jeweiligen innenpolitischen Landkarten verschwinden können und stattdessen wechselnde Populisten-Chaosformationen übernehmen.
Mit der Vorerst-Ausnahme von Frankreich – Emmanuel Macron – wurde es nirgendwo besser. Sollte tatsächlich eine beruflich bis dato erfolgreiche Frau wie Pamela Rendi-Wagner bereit sein, sich das Himmelfahrtskommando anzutun, sollte es ihr die Partei danken und ihr besseres Personal zur Seite stellen als sie das bei Christian Kern tat.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2018)