Bulgarien: Offroad durch den Balkan

Belogradchik im westlichen Balkangebirge mit seinen originellen Felsformationen.
Belogradchik im westlichen Balkangebirge mit seinen originellen Felsformationen.Getty Images/iStockphoto
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Kurz auf die Autobahn, dann gleich abbiegen: Gut durchgeschüttelt geht es ins Balkangebirge und in die Rhodopen.

In Bulgarien glaubt man an Wunder. Eines davon ist, dass man überhaupt noch existiert. Denn in dieser geografischen Lage – der Verbindungsachse von Russland mit dem Mittelmeer und der Osmanen mit dem Rest Europas – brauchte man weder Verwandte noch Freunde, um auf genügend Feinde zu kommen. Und dass man sich unter Nachbarn nicht so schätzte, war offensichtlich nur natürlich. Während sich diese über die Jahrhunderte das bulgarische Stück Land gern untereinander aufgeteilt hätten, waren die Großmächte erfolgreich darum bemüht, Bulgarien territorial klein, politisch schwach und bedeutungslos zu halten. Zum Schluss haben einige etwas davon gehabt – die Nachbarn haben ein wenig an den Grenzgebieten genascht. Der Einfluss der Großmächte hebt sich hier gegenseitig auf, und das Land hat sich in eine gravitationslose Zeitblase gebettet – wo es, ein bisschen vergessen von der Welt, gern selbst die Welt vergisst.

Will man Bulgarien bereisen, sollte man das der Länge nach tun, denn das Land ist geschichtet: Ebene–Berg–Ebene–Berg sprich Donautiefebene–Balkangebirge– Oberthrakische Tiefebene–Rhodopen. Diese Schichtung prägte das Schicksal der Bewohner: In den Ebenen haben sich die großen Städte und Zentren entwickelt; Ackerbau, Tabak, Baumwolle, Kultur, Reichtum gedeihen hier. Aber in den Bergen ist das Schicksal eines der ältesten Länder Europas jahrtausendelang besiegelt worden, dort wurden die Legenden geschrieben.

Durch Bulgarien verlaufen zwei Autobahnen – eine nördlich, eine südlich des Balkangebirges. Auf ihnen ist oft Ungewohntes zu sehen: Pferdekarren, Pelikane, rückwärtsfahrende Autos, Hirten, Herden und Ausfahrten ins Unbekannte. Letztere sollte man nehmen, denn diese Straßen führen in die Berge. Das Offroad-Fahrgefühl stellt sich hier schneller als erwartet ein, manchmal schon auf der Autobahn. Was davon abhängt, wie kalt der Winter oder wie heiß der Sommer war und vor allem, wann die nächsten Wahlen stattfinden. Sobald man sich von den Hauptstraßen wegbewegt, entscheidet die politische Zugehörigkeit des Bürgermeisters über den Fahrkomfort oder überhaupt die Durchlässigkeit des Straßennetzes. Deshalb – und weil es sie so glücklich macht – sind viele Bulgaren mit Geländeautos unterwegs.

Der Balkanfaktor

Meint der Begriff Balkanhalbinsel eine geografisch nicht eindeutig definierte Halbinsel im Südosten Europas, so ist eindeutig klar, dass sich der allergrößte und prächtigste Teil des Balkangebirges in Bulgarien befindet. Auch den Namen hat der Balkan von den Protobulgaren, die damit „der sich hoch erhebt“ meinten. Das Bergland ist voll von kleinen, bescheidenen Dörfern, kaum belebt, seit Menschengedenken kaum verändert. Hier gibt es nur Echtes: Schafe, Sonnenaufgänge, Wölfe und die Geschichten am Kaminfeuer. Diese berichten von den Wundern der Gegend, von einsamen Mönchen, die Hunderten Osmanen getrotzt haben, von Höhlen, mächtig wie Kathedralen, von unglücklicher Liebe und gehängten Heiducken.

Einige dieser Geschichten erzählen die Felsengebilde bei Belogradchik im westlichen Balkan. Die bis zu 200 Meter hohen Sandgebilde ähneln schrulligen Figuren, die ein grausames versteinertes Schicksal nicht weit von den „Augen Gottes“ ereilt haben muss. Steht man erst einmal in der gleichnamigen, 262 Meter langen Höhlenpassage bei Lovech und blickt hinauf zur Decke, erkennt man sie: die riesigen, leuchtenden himmelblauen Augen des Allmächtigen. Wem dieser Anblick nicht reicht, der soll hier springen – nämlich Bungee, in einer der wenigen Höhlen, in denen man das darf. Nicht weit von den Augen Gottes liegt das Schwarze Loch, ein 800 Meter langes, mehrstöckiges Höhlenlabyrinth mit unterirdischen Flussabschnitten. Alle Versuche, das Schwarze Loch auszuleuchten, sind bisher gescheitert, vor allem am unentwegten Verschwinden der Kabel. Damit man nicht selbst verschwindet, ist die Höhle nur mit viel Erfahrung, Guide und Ausrüstung zu begehen.

Im zentralen Balkangebirge, nördlich des Rosentals, wird es paradiesisch, nicht nur weil im Frühling der Duft von Rosen darüberschwebt. Am Nordhang, knapp unterhalb des höchsten Gipfels des Balkans, des Botew (2376 m), entspringt ein atemberaubender, 124 Meter hoher Wasserfall. Paradiesischer Spritzer heißt er und ist der höchste Wasserfall der Balkanhalbinsel. Spektakulär und erfreulicherweise leicht zu erreichen.

Zu Zeiten des Kommunismus wurde Essen als Staatsreserve in der riesigen Dewetashka-Höhle bei Lovech gebunkert, später Erdöl. Gleichzeitig ist die Höhle eine der wichtigsten Zufluchtsstätten von Fledermäusen in Europa. Kolonien von 14 Arten und über 35.000 Exemplaren halten hier Winterschlaf. Zumindest, wenn nicht gerade Sylvester Stallone, Bruce Willis oder Arnold Schwarzenegger vorbeischauen. Denn die Dreharbeiten zu „The Expendables 2“ hatten 2009 mit Spezialeffekten, Blitzlichtern und Massenszenen in der unter strengem Naturschutz stehenden Höhle sowohl der bulgarischen Judikatur als auch den Fledermäusen stark zugesetzt. Einerseits wollte man die Gäste aus Hollywood nicht brüskieren, andererseits flohen Unmengen von Tieren. Erst drei Jahre später war die Mehrzahl der Fledermäuse wieder zurückgekehrt. Heute ist außer Bewundern dort nichts erlaubt.

Möge der Begriff Balkan für manche abwertend für Korruption, Rückständigkeit und ausufernde Emotionalität stehen, so lieben die Bulgaren ihre „Balkan-Identität“. Ein Grund hierfür dürfte die Tatsache sein, dass das Gebirge über Jahrhunderte als Zufluchtsort verschiedener Freiheitskämpfer gegen die osmanische Herrschaft diente. Tatsächlich findet man im Balkangebirge unzählige Felsenkloster, schwer zugänglich und versteckt haben hier 500 Jahre lang Mönche gelebt. Die Felsenkirche bei Iwanowo, 20 Kilometer von Russe entfernt, ist eines der am besten erhaltenen. Ab dem 12. Jahrhundert bewohnten Eremiten die natürlichen Höhlen und gruben weitere Kammern in den weichen Kalkstein. Im Lauf der Zeit wurde aus den vereinzelten Zellen ein Kloster. Außergewöhnlich sind die Fresken an den Höhlenwänden aus dem 13. und 14. Jahrhundert: Sie zeigen Motive aus dem Leben früher christlicher Eremiten und die letzten sieben Tage im Leben Christi, inklusive des „Letzten Abendmahls“, hundert Jahre vor jenem Da Vincis.

Bei Kap Emine mündet das Balkangebirge ins Schwarze Meer, am stürmischsten Kap Bulgariens mit einem sehr gefährlichen Uferbereich. Zudem gilt das Kap als Grenze des antiken Thrakien. Von dort verläuft die Oberthrakische Tiefebene, zwischen dem Balkan und den Rhodopen im Süden des Landes. Als trinkfeste und raubeinige Haudegen wurden die Thraker von den Griechen beschrieben. Vom angeblichen Rotstich der Haare ihrer Ahnen ist den heutigen Bulgaren nicht viel geblieben, aber dafür haufenweise thrakische Goldschätze, Grabhügel, Tempel und die Schwäche für okkulte Felsenheiligtümer. Ob es ein Schatten oder ein spezifischer Lichteinfall ist – diese Gegend hat etwas Magisches. Das haben die Thraker gewusst, das wissen die Bulgaren.

Um die Geschichten aus den Rhodopen zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass die Menschen hier gern an Wunder glauben. Eines davon ist der Steinbogen von Skribina in den Westrhodopen: Schlüpft man durch ihn, werde man genesen. Dort lebt eine alte Frau – Mütterchen Julia, eine selbst ernannte Heilerin, die unermüdlich ihre Patienten zum Bogen führt. Die Bäume der Lichtung sind übersät mit den Kleidungsstücken der Kranken – so will es der Zauber. Das Loch ist eng, doch noch blieb niemand darin stecken. Dieser Tage kommt Mütterchen Julia gar nicht mehr nach, so groß ist der Andrang. Heilung durch Aberglauben scheint im Vergleich zum maroden Gesundheitssystem vielversprechend.

Das bulgarische Delphi

Wen solcher Schabernack nicht begeistert, den treibt es möglicherweise in die östlichen Rhodopen zum Perperikon. Vor 5000 Jahren einer der heiligsten Orte der Antike, sind diese gewaltigen thrakischen Ausgrabungen gut erreichbar und wenig besucht. Kaum zu glauben, dass die Hauptstadt des Orpheuskults erst vor 20 Jahren freigelegt wurde. Die Funde sind schier unfassbar: Endlich sind hier der verschollene Tempel des Dionysos und sein Orakel entdeckt worden – nach dem von Delphi das bedeutendste der Antike. Mit Wein und Feuer wurde hier geweissagt, und hier soll Alexander der Große seine Zukunft als Weltherrscher erfahren haben.

Von Wein, Weib und Gesang müssen die Bewohner besessen gewesen sein – Dionysos als ihr Gott, Orpheus, ein Thraker wie sie, und die Sache mit der Lust: Die nahe gelegene Höhle Tangarduk kaya muss einiges gesehen haben. Die von Menschenhand geformte, exakte Darstellung einer weiblichen Vagina, 22 Meter lang, mündet in einem als Uterus geformten Altar. Einmal täglich stiehlt sich ein Lichtstrahl in die Höhle, zuerst ganz klein, verwandelt er sich einige Momente lang in einen riesigen leuchtenden Phallus – bis die Sonne oder man selbst weiterzieht. Es ist nicht schwer, an Wunder zu glauben, wenn laufend welche passieren. Und Bulgarien ist ein Land, das an Wunder glaubt.

OFFROAD DURCH BULGARIEN

Krushuna Wasserfälle: Nahe der Dewe- tashka-Höhle, Folge von Wasserfällen, ein Pfad führt flussauf bis zur Quelle.

Zheravna: Architekturjuwel am Fuß des Balkangebirges bei Kotel. Das Dorf hatte das Privileg der „freien Ortschaft“ wäh- rend der osmanischen Fremdherrschaft. Felsenkloster Shashkanite: Fünf Mönchszellen, in den senkrechten Felsen geschlagen, nur über Hängebrücke erreichbar. Unglaublicher Blick auf den Balkan bei Provadia.

Orlovo Oko/Adlerauge: Aussichtsplatt- form in den Westrhodopen bei Jagodina.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2018)

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