Mehr als 700.000 Menschen kamen laut Organisatoren nach London, um den EU-Austritt vielleicht doch noch abwenden zu können.
In London hat am Samstag eine Großdemonstration für einen weiteren Volksentscheid über den Brexit stattgefunden. Die Teilnehmer der Kundgebung forderten, dass die Wähler über ein - bis heute noch nicht vorliegendes - Abkommen über den britischen EU-Austritt abstimmen dürfen. Viele äußerten die Hoffnung, den Brexit so doch noch abwenden zu können.
Etwa 700.000 Menschen demonstrierten nach Veranstalterangaben in London. Bürgermeister Sadiq Khan von der oppositionellen Labour Party sprach von einem "historischen Moment" der Demokratie.
Aufgerufen zu dem Marsch hatte die Kampagne "People's Vote", die ein zweites Referendum zum EU-Austritt durchsetzen will. Nach ihrem Willen sollen die Briten das Recht bekommen, über ein finales Abkommen abzustimmen. Die Chancen dafür stehen aber schlecht.
Die politisch angeschlagene Premierministerin Theresa May hatte schon zuvor ein zweites Referendum strikt abgelehnt. Britische Medien äußerten sich ebenfalls skeptisch: Es spiele überhaupt keine Rolle, ob sich 700 oder 700.000 Menschen an einer solchen Demonstration beteiligten, kommentierte etwa der Nachrichtensender Sky News.
Neue Nackenschläge für May gab es am Sonntag auch aus ihrer eigenen Partei. Der zurückgetretene Brexit-Minister David Davis warf der konservativen Regierungschefin in der Zeitung "Mail on Sunday" vor, mit ihren Plänen nicht nur Anhänger, sondern auch Gegner des EU-Austritts verärgert zu haben.
Die friedliche Anti-Brexit-Demonstration bei schönstem Wetter führte mitten durch London bis zum Parlament. Die Veranstalter hatten zunächst nur etwas über 100.000 Teilnehmer erwartet. Die Polizei gab keine offizielle Schätzung ab. Es könnte sich Medienberichten zufolge um die größte Demonstration seit 15 Jahren in der britischen Hauptstadt gehandelt haben.
Unter den Marschierenden, von denen viele mit Bussen und Zügen aus allen Ecken des Landes, aber auch aus anderen Teilen der EU eintrafen, waren auch etliche Mitglieder der Bürgerinitiative The3Million, die sich für die Rechte von in Großbritannien lebenden EU-Ausländern nach dem Brexit einsetzt. Selbst von den mehr als 1.000 Kilometer entfernten Orkney-Inseln vor der Nordküste Schottlands kamen Menschen nach London, um ihrem Ärger Luft zu machen. Familien mit Kindern beteiligten sich ebenso wie EU-freundliche Abgeordnete der regierenden Konservativen. Auch in der nordirischen Hauptstadt Belfast gingen rund 2.000 Brexit-Gegner auf die Straße.
Beim Referendum 2016 sei der EU-Austritt als "einfachster Deal in der Geschichte" verkauft worden, so "People's Vote", ein Zusammenschluss mehrerer Gruppierungen. Inzwischen wisse man aber, welche Kosten der Brexit verursache und welchen Schaden er den Arbeitnehmerrechten zufüge. Kritik wurde auch an der Abwanderung von ausländischen Ärzten und Pflegepersonal sowie am schwächelnden Pfund geübt.
An dem Protestzug nahmen auch zahlreiche Studenten teil, von denen sich viele wegen ihres Alters noch nicht am Brexit-Referendum von 2016 beteiligen durften. Damals hatte eine Mehrheit von 52 Prozent der Briten für den Austritt gestimmt. Großbritannien will die Europäische Union Ende März 2019 verlassen.
Die Brexit-Verhandlungen stocken jedoch derzeit vor allem wegen der Irland-Frage. London und Brüssel wollen zwar Kontrollen und Schlagbäume an der derzeit nahezu unsichtbaren Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland vermeiden. Sie konnten sich aber bisher nicht auf eine praktikable Lösung einigen. Viele Briten treibt inzwischen die Sorge um, dass es angesichts der Differenzen zwischen London und Brüssel zu einem chaotischen Brexit ohne vertragliche Regelungen kommen könnte.
Zuletzt mehrten sich in Großbritannien die Stimmen, die ein neues Referendum fordern. Der ehemalige Labour-Premierminister Tony Blair macht sich schon länger dafür stark. May bekräftigte am Mittwoch, dass es keinen zweiten Volksentscheid geben werde. Die Menschen hätten abgestimmt, und der Brexit werde umgesetzt.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon erklärte dagegen in einer Video-Botschaft ihre Unterstützung für die Forderung nach einem zweiten Referendum. Sie erinnerte daran, dass die 35 Abgeordneten ihrer Schottischen Nationalpartei (SNP) im britischen Unterhaus ebenfalls dafür stimmen würden, falls ihnen die Frage gestellt werden sollte. Die Schotten hatten beim EU-Referendum im Juni 2016 mit einer deutlichen Mehrheit von 62 Prozent für einen Verbleib in der Europäischen Union votiert.
(APA/dpa/AFP/Reuters)