Brüssel verbietet eine Fusion der Zugsparten von Siemens und Alstom. Paris und Berlin sind erbost und sehen Europa als Verlierer. Nun soll das EU-Wettbewerbsrecht geändert werden.
Wien. Es ist eine weitreichende Entscheidung, die die EU-Kommission am Mittwoch getroffen hat. Ein kontroverse dazu. Den „Airbus der Schiene“, den deutsch-französischen Megakonzern Alstom-Siemens, wird es nicht geben. Es darf ihn nicht geben. Brüssel untersagt es. Glücklich ist mit dieser Entscheidung niemand außer die EU-Kommission selbst und vielleicht die Chinesen, die ihre Vormachtstellung bei Hochgeschwindigkeitszügen jetzt ausbauen können. Wie konnte das passieren? Was sind die Argumente? Hat Brüssel am Ende gar recht?
Theoretisch ja, praktisch nein. So muss man es ausdrücken. Brüssel sorgt sich um den Wettbewerb. Wenn Siemens und Alstom sich zusammentun, gibt es bei Hochgeschwindigkeitszügen und Signalanlagen kaum noch Konkurrenz, begründete Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager am Mittwoch die Entscheidung. Höhere Preise wären die Folge gewesen, so die Dänin. Siemens-Chef Joe Kaeser sprach hingegen vom „Schlusspunkt hinter einem europäischen Leuchtturmprojekt“.
China nicht als Gefahr gesehen
In Brüssel glaubt man den Deutschen und Franzosen nicht, dass Europa sich jetzt schon gegen den chinesischen Staatskonzern CRRC wappnen muss. „In Bezug auf Höchstgeschwindigkeitszüge hält die Kommission es für höchst unwahrscheinlich, dass neue Wettbewerber aus China in absehbarer Zukunft Wettbewerbsdruck auf die beteiligten Unternehmen ausüben werden“, sagte Vestager.
Dass der Player aus China mit 30 Mrd. Euro schon jetzt einen Umsatz hat, der doppelt so groß ist wie jener von Siemens und Alstom zusammen, lässt die Kommission nicht gelten. Bei Signaltechnik seien Chinesen in Europa bisher noch gar nicht aufgetreten. Aber: Ein anderer großer Konkurrent von Alstom und Siemens, die kanadische Bombardier, begrüßte die Entscheidung am Mittwoch.
Mit dem Nein aus Brüssel sind die Pläne wohl endgültig vom Tisch. Einen neuen Anlauf hatte Alstom-Chef Henri Poupart-Lafarge bereits ausgeschlossen: „Es wird keine zweite Chance geben.“
Es ist eigenartig: Die Europäische Union wurde vor 70 Jahren gegründet, um Deutschland und Frankreich stärker aneinanderzubinden. Auch – und vor allem – im Industriesektor. Dass der TGV-Hersteller Alstom und der ICE-Macher Siemens weiterhin nebeneinanderher fahren müssen, wurde deshalb auch in den Hauptstädten Paris und Berlin am Mittwoch heftig kritisiert. Die Entscheidung wird wohl ein Nachspiel auf höchster Ebene haben. Bruno Le Maire, der französische Wirtschaftsminister, nannte das EU-Kartellrecht am Mittwoch „überholt“. Es nutze nur globalen Konkurrenten.
Neuer Kurs ab Mai?
Schon am Dienstag antwortete der deutsche Wirtschaftsminister, Peter Altmaier, mit der Vorstellung einer „Nationalen Industriestrategie 2030“. Deutsche Branchengrößen wie Siemens, ThyssenKrupp, die Automobilhersteller sowie die Deutsche Bank bräuchten mehr Unterstützung. Dass er an einem Tag, an dem man die EU-Ablehnung der Zugfusion bereits riechen konnte, ausgerechnet das in Brüssel verhasste Wort „national“ in den Mittelpunkt stellte, war wohl Kalkül. Die Entscheidung der Kommission ist für Altmaier eine persönliche Niederlage.
Er hatte sich mehr als jeder andere Politiker für die Fusion und die Schaffung eines „europäischen Champions“ eingesetzt. Noch will Altmaier aber nicht so weit gehen, das EU-Kartellrecht einfach auszuhebeln, wie es Siemens-Chef Kaeser schon vorgeschlagen hatte. Die neue CDU-Chefin, Annegret Kramp-Karrenbauer, hat sich bereits für eine Reform des europäischen Wettbewerbsrechts ausgesprochen. Man dürfe angesichts der chinesischen Herausforderung nicht verhindern, dass „strategische Weichenstellungen für morgen“ vorgenommen werden.
Auch Manfred Weber (CSU), der konservative Spitzenkandidat für den Posten des Kommissionschefs, sagte: Europa müsse „in spezifischen Ausnahmefällen in der Lage sein, Wettbewerbsrecht nicht nur für Europa anzuwenden, sondern in globalen Maßstäben zu denken“. Soll heißen: Nach den EU-Wahlen im Mai wird es wohl einen neuen Kurs geben. Die Entscheidung der aktuellen Kommission ist auch deshalb für viele schwer zu verstehen, weil unter Präsident Jean-Claude Juncker sehr wohl Maßnahmen gegen China gesetzt werden. So arbeitet die EU an Regeln für (bzw. gegen) Übernahmen europäischer Firmen durch Chinesen. Dazu gibt es einen Vorschlag, der aber noch nicht beschlossen ist.
Brüssel verteidigt sich
Juncker verteidigte am Mittwoch naturgemäß die Entscheidung. Man werde „immer Wettbewerb zulassen, der fair ist für Unternehmen und letztlich fair für Verbraucher“. Die Kommission werde aber „niemals Politik spielen oder bevorzugen, wenn es darum geht, gleiche Wettbewerbsbedingungen sicherzustellen“.
Die Kommission würde aber nicht, wie von Siemens-Chef Kaeser behauptet, aus „starrköpfigen Technokraten“ bestehen. Man habe in den vergangenen 30 Jahren mehr als 6000 Fusionen genehmigt – und „weniger als 30“ blockiert.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2019)