Gruppendynamik: Zertrümmerte Egos und viele Tränen

Marin Goleminov
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Es war ein weiter Weg vom früheren Ansatz „Aus einer blutigen Nase lernt man für das Leben“ zur heutigen Praxis der Teamdynamik. Zwei Zeitzeugen vergleichen.

Als junger Student in den 1980ern, erinnert sich ein Steuerberater, gab es an der Wiener Wirtschaftsuni einen besonders „billigen“ Schein. „Gruppendynamik“ hieß das Seminar und bestand aus einem langen Wochenende in einem Hotel weitab von Wien. 30 Teilnehmer bildeten zwei konzentrische Sesselkreise. Im inneren Kreis sollte man „nach Belieben“ interagieren, im äußeren Kreis beobachten. Dann wurde getauscht. Professor und Assistenten traten nicht weiter in Erscheinung.

Im inneren Sesselkreis ging es bald rund. Nach Minuten peinlichen Schweigens wagte ein Kollege den Anfang: „Also, mein Name ist Herbert, ich studiere BWL.“ Darauf eine Kollegin: „Ich wusste gleich, du wirst dich in den Vordergrund spielen. Angeber wie dich kann ich nicht leiden.“ Eine andere Kollegin sprang ein: „Das ist nicht fair, er traut sich wenigstens.“ Im Nu befetzten sich die Studenten, ohne Anlass, ohne Grund. Niemand kam ungeschoren davon.

Was war der Sinn der Sache? Er wisse es nicht, sagt der Steuerberater. Er erinnere sich nur an höchst unangenehme Gefühle und eine Menge Tränen. Immerhin, er bekam seinen Seminarschein. Und wollte danach mit den Kollegen nichts mehr zu tun haben.

Selbst- und Fremdbild

Vom Gruppendynamik-Begriff jener Zeit zum heutigen war es ein weiter Weg. Zeitzeuge Wolfgang Hemel (Hemel Consulting) erinnert sich: „Der Zugang war: Aus einer blutigen Nase lernt man für das Leben.“ Und was lernt man? Durchaus Nützliches, bestätigt Niki Harramach (Harramach & Veličković), der kürzlich sein Buch „Wir sind Team“ veröffentlichte: „Er lernte, Selbstbild und Fremdbild zu unterscheiden, Feedback zu geben und zu nehmen – und den Umgang mit sinnentleerter Macht.“ Denn man dürfe den Zeitbezug nicht vergessen: In den USA hatte dieser Ansatz seine Hochblüte in den revolutionsverherrlichenden späten 1960er-Jahren. Es dauerte bloß so lang, bis er nach Österreich schwappte.

Im Unternehmenskontext hatte die Gruppendynamik ein ganz spezielles Ziel. Hemel schaudert es noch heute. „Es hieß: Wir reißen jedem die Schlacke herunter und bauen ihn nach unseren Vorstellungen wieder auf. Zum skrupellosen eisenharten Konzernsoldaten.“ Wer diese Gehirnwäsche überstanden hatte, den erfüllte es mit Stolz, von seinen Kollegen als „Schwein“ bezeichnet zu werden. Hemel: „Einer tanzte vor Freude herum und rief: ,Es ist so schön, ein Schwein zu sein.‘“

Dazu passte auch die typische Schwächenorientierung jener Zeit: Man stocherte in den Schwächen herum und ignorierte die Stärken. Gewonnen hatte, überspitzt gesagt, wer sich die dickste Haut wachsen ließ, am zynischsten oder aggressivsten wurde: eine Unternehmenspraxis, die sich zu keiner Zeit mit der Literatur deckte.

Trotzdem daraus gelernt

Beiden Beratern ist eine Unterscheidung wichtig: Das Phänomen Gruppendynamik gibt es, seit es Menschen gibt. Die sozialwissenschaftliche Disziplin gleichen Namens beobachtet diese Vorgänge und zieht Erkenntnisse daraus. Die praktische Anwendung zieht aus diesen Theorien konkreten Nutzen.

So fern uns die damalige Praxis scheint, aus der heutigen Teamarbeit sind die Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Gruppendynamik nicht wegzudenken. Beispiele sind die Teamrollen: von Alpha (Anführer), Beta (Graue Eminenz), Gamma (Geführter) bis Omega (Gegenspieler des Alpha) oder der Vierschritt: Norming – Storming – Forming – Performing, ohne den Teams nur selten ihre volle Leistungsfähigkeit entfalten.

Zum Unterschied zum WU-Seminar der 1980er-Jahre lässt man allerdings keine Fremden mehr aufeinander los. Heute optimiert man neue oder bestehende Arbeitsteams oder bereinigt Konflikte. Unter der Prämisse der Stärken-orientierung – auch das hat sich geändert. So wie die Rolle des Trainers: Der hält sich nicht mehr heraus, sondern leitet die Gruppe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2019)

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