Nordrhein-Westfalen: Seismograf für ganz Deutschland

NordrheinWestfalen Seismograf Rhein Ruhr
NordrheinWestfalen Seismograf Rhein Ruhr(c) APN (Roberto Pfeil)
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Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Wie das größte deutsche Bundesland tickt und es der gesamten Republik den Takt vorgibt. NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers droht eine Niederlage gegen Rot und Grün.

Im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen öffneten sich am Sonntagmorgen die Wahllokale für die mit Spannung erwartete Landtagswahl. Der Urnengang hat auch bundespolitische Bedeutung. Umfragen deuten auf einen Machtwechsel hin.

Im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland sind 13,3 Millionen Wahlberechtigte zur Stimmabgabe aufgerufen. In Düsseldorf regiert eine christlich-liberale Koalition unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Sie hatte 2005 eine 39 Jahre währende Epoche sozialdemokratischer Vorherrschaft an Rhein und Ruhr beendet.

Sollte die SPD die Landtagswahl gewinnen, dann ändern sich die Mehrheitsverhältnisse im deutschen Bundesrat, wo die Bundesländer ihrer Größe entsprechend vertreten sind. Dort kann das bürgerliche Lager von Bundeskanzlerin Angela Merkel bisher auf auf 37 von 69 Stimmen zählen. Auf Nordrhein-Westfalen entfallen sechs Stimmen. Der Bundesrat entscheidet über eine große Zahl von Gesetzen mit.

Nordrhein-Westfalen ist ein wunderschönes, vielfältiges, großes Land. Die unterschiedlichen Meinungen und verschiedenen Typen sind es, die NRW so spannend machen.“ In jede seiner Wahlkampfreden hat Nochministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU), dessen Schicksal sich heute entscheidet, pathetische Versatzstücke dieser Art eingebaut. In der Tat ist das heterogene größte deutsche Bundesland mit seinen knapp 18 Millionen Einwohnern schwer zu fassen. Den NRWler als solchen gibt es nicht, sehr wohl aber das gemeinsame Gefühl: „Wir sind viele, wir sind stark, das ist so.“

Rheinland, Westfalen, Lippe: drei Landesteile, drei Menschenschläge. „Wir Rheinländer“, erklärt ein ebensolcher, „sind aufgeweckt, fröhlich, konversationsfreudig. Der Rheinländer quatscht dich eine halbe Stunde an und sagt am Schluss: ,Na jut, is doch ejal‘.“ Der Westfale ist „eher trocken“, der Niederrheiner wiederum „ein bisschen lascher drauf. Nett, aber nicht so aufgedreht“.

NRW ist ein politisch-geografisches Kunstprodukt, das als einziges deutsches Bundesland keine historischen Vorläufer hat. 1946 drängten die dortigen britischen Besatzer auf ein starkes Bundesland im Westen mit einem ungeteilten Ruhrgebiet. Das industrielle Herz Westdeutschlands sollte als Ganzes erhalten werden. Und so setzte sich NRW aus der preußischen Provinz Westfalen, dem Nordteil der ebenfalls preußischen Rheinprovinz und dem kleinen Land Lippe zusammen.

Fünf Jahrzehnte lag mit Bonn auch die Hauptstadt der BRD in Nordrhein-Westfalen. Der Umzug nach Berlin hat am Selbstbewusstsein genagt.


Geballter Bergbau. Preußisches Erbe, rheinischer Katholizismus, Bergbau. Das gemeinsame Herz der NRWler schlägt im „Pott“, dem größten Ballungsraum des Bundeslandes, wo mehr als fünf Millionen leben. Wenn man das Umland dazurechnet, sind es in der Metropolregion „Rhein-Ruhr“ sogar zehn Millionen. Die Spuren der Zechen sind noch zu sehen, Straßennamen wie Glückauf- oder Gussstahlstraße in Bochum erinnern an alte Zeiten, aber die rauchenden Schornsteine, mit denen man das Ruhrgebiet noch assoziieren mag, sind passé. Dafür flanieren heute die Gäste der „Kulturhauptstadt 2010“ in der Zeche Zollverein in Essen.

Das Image hat sich geändert, parallel zum Strukturwandel, der etwa in Essen schön sichtbar ist, wie Torsten Schmidt, Konjunkturexperte vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung, beschreibt: „Im nördlichen Stadtteil das typisch alte Gebiet, ein sozialer Brennpunkt mit hoher Arbeitslosigkeit, Arbeitersiedlungen. Die Zeche Zollverein mittendrin wie eine Insel.“ Im Süden Essens, dem „lebenswerten Teil“, hingegen: „Firmenzentren, Dienstleistungen, Kultureinrichtungen.“


Strukturwandel gefragt. Die Herausforderungen sieht der Experte darin, „den Strukturwandel fortzusetzen, Innovation zu stärken und kleine und mittlere Unternehmen zu fördern“. Immer noch sei NRW im Vergleich stärker von Großindustrie geprägt, der Mittelstand unterrepräsentiert; Schlüsselbranchen sind neben Energie und Auto die Chemie, Metallerzeugung und -verarbeitung sowie der Maschinenbau. „Wenn bei der vielfach noch vorhandenen Monostruktur etwas wegfällt und keine Alternative da ist, gibt es keine oder nur geringe Gewerbesteuereinnahmen.“ Etliche Kommunen im Ruhrgebiet sind daher de facto pleite. Einer der „prominentesten“ Fälle ist Wuppertal, dessen berühmtes Stadttheater kaum noch bespielt wird und 2012 ganz aufgegeben werden soll. Auch anderswo müssen Schwimmbäder, Bibliotheken etc. zugesperrt werden.


Experimentierfeld für Koalitionen.NRW ist das wichtigste Land für die Bundespolitik und von seiner enormen Wirtschaftskraft abgesehen auch bundespolitischer Seismograf: So gelang etwa ein Bündnis aus SPD und FDP, wie es 1966 der Sozialdemokrat Heinz Kühn in Düsseldorf bildete, drei Jahre später Willy Brandt auf Bundesebene. 1995 schmiedete Johannes Rau ein rot-grünes Bündnis – drei Jahre später übernahmen diese beiden Parteien die Macht im Bund.

Wenn ein Politiker NRW darstellte, war das Rau, der langjährige SPD-Ministerpräsident. Zwar prägten zwischen 1947 und 1966 zwei christdemokratische Ministerpräsidenten NRW, aber ab dann galt es als Stammland der Sozialdemokraten, als rote Kraftkammer Deutschlands – 39 Jahre lang, wenngleich der SPD mit dem Niedergang des Montansektors die Klientel von Bergleuten und Stahlkochern abhanden kam. Als 2005 die CDU gewann und mit der FDP die Regierung bildete, war das vor allem auf den Frust über Rot-Grün in Berlin zurückzuführen.

(c) Die Presse / JV


Große Söhne und Töchter. Aus NRW kommen Persönlichkeiten wie Joseph Beuys, Beethoven, Heinrich Böll, Annette von Droste-Hülshoff, Wilhelm Conrad Röntgen und Alfred Krupp. Neben Rau die Bundespräsidenten Gustav Heinemann, Heinrich Lübke, Walter Scheel. Die Bundeskanzler Konrad Adenauer und Gerhard Schröder. Guido Westerwelle, Peer Steinbrück. Und der gab im Wahlkampf zu: „Als Ministerpräsident habe ich nach zwei, drei Gläsern Rotwein schon mal die Unabhängigkeitserklärung für NRW gefordert.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2010)

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