Spurensuche

Die Bettler von Wien: Eine Annäherung

Sozialarbeiterin Annika Rauchberger kennt Bettlerin Marianna seit sechs Jahren – diese möchte lieber nicht erkannt werden.
Sozialarbeiterin Annika Rauchberger kennt Bettlerin Marianna seit sechs Jahren – diese möchte lieber nicht erkannt werden.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Daten zu Bettlern gibt es kaum. Dafür aber Widersprüche: Das BKA spricht von Bettelei im großen Stil, die ganze Villen finanzieren soll. Bettellobby und Caritas sehen dies völlig anders.

Marianna trinkt Cappuccino. Ganz hinten, in der Ecke eines Wiener Cafés in der Innenstadt, während „Driving Home for Christmas“ im Radio läuft. Ob die 56-Jährige dieses Weihnachten zu Hause sein kann, das weiß sie noch nicht. Genauso wenig, wann sie sich wieder eine Tasse Kaffee selbst bezahlen können wird. 200 Euro kostet das Busticket Richtung Târgovişte. Geld, das sich Marianna sonst in zwei Wochen auf den Straßen Wiens erbettelt, erzählt sie.

Dabei kostet allein die Miete für ihre Matratze knapp 100 Euro. Nicht für eine Wohnung, nicht für ein Zimmer – für eine Matratze, die sie zwischen 19 und 7 Uhr benutzen darf, bezahlt Marianna wöchentlich. „Eine Bettgeherin“, erklärt Annika Rauchberger, die neben ihr am Tisch sitzt. „Kennt man sonst eher aus Zeiten der Industrialisierung, so leben aber viele Bettler hier.“

Die Sozialarbeiterin und Aktivistin der „Bettellobby“, ein Netzwerk, das sich für Bettelnde einsetzt, kennt Marianna schon lang. Sie übersetzt aus dem Rumänischen, was die zurückhaltende Frau erzählt. Etwa, dass man am regulären Wohnungsmarkt ohne Job keine Chance hat. Dass ihr Neffe ihr den Schlafplatz auf der Matratze untervermietet. Und, dass Mariannas Sohn einen Autounfall hatte und in Rumänien nur eine kleine Invalidenpension bekommt, die nicht für die Familie ausreicht.

Auf den Knien

Marianna sei nach Wien gekommen, um Arbeit zu finden, bald aber schon kniete sie auf dem Asphalt, weil sie keinen Job bekam. Sechs Jahre ist das her. Heute hat Marianna chronische Schmerzen in beiden Knien.

Wie viele Menschen wie Marianna auf den Straßen der Stadt betteln, scheint niemand so genau zu wissen. „Man hat einfach keine seriösen Zahlen“, sagt Kerstin Schultes. Für die Caritas organisiert sie Infoabende zu Bettelei. „Die Menschen sind oft mit den Fragen überfordert, wer die Leute sind, warum sie kommen. Und was mit dem Geld passiert, das sie spenden.“ Doch Antworten darauf hat auch Schultes nur begrenzt. „Natürlich können wir nicht in Leute hineinschauen“, sagt sie. „Aber ich denke, dass die Spenden in der Regel schon für den Lebenserhalt der Leute verwendet werden.“

Wenn Marianna Geld übrig bleibt, schickt sie es nach Rumänien. Zu ihrer Familie, dem Sohn, wie sie erzählt. Freiwillig, betont Rauchberger. Mit Menschenhandel oder einer Mafia habe das nichts zu tun. „Natürlich ist das organisiert, aber nicht kriminell organisiert“, so die Sozialarbeiterin. „Der Begriff der organisierten Bettelei hat durch die Medien und die Politik einen negativen Touch bekommen.“ Von einer Mafia sei dann etwa die Rede, mit reichen Bettelbossen an der Spitze, die verarmte Menschen nach Europa karrt.

»„Ich bin gut vernetzt, spreche selbst Rumänisch – aber noch nie habe ich etwas von kriminell organisierter Bettelei mitbekommen.“«

Annika Rauchberger

Seit sechs Jahren arbeitet Rauchberger auf Wiens Straßen mit Bettlern. „Ich bin gut vernetzt, spreche selbst Rumänisch – aber noch nie habe ich etwas von kriminell organisierter Bettelei mitbekommen.“ Das Geld würde nicht Bettelbossen, sondern den bettelnden Menschen und ihrer engen Familie zugutekommen. Auch Marianna wisse nichts von mafiösen Strukturen, sagt sie. Bevor sie geht, bittet sie noch, dass sie in der Zeitung nicht erkannt werden möchte. Aus Angst vor Anfeindungen. Nicht von Mafiosi, sondern von Passanten.

„Es ist extrem peinlich, wie wir mit Bettlern umgehen“, sagt Rauchberger. „Wir leben in einer Zeit, in der an armutsbetroffenen Menschen Hass entladen wird und man versucht, die Menschen zu entsolidarisieren.“ Bettler würden zwischen fünf und 20 Euro am Tag verdienen, schätzt Rauchberger. „Damit lässt sich keine Villa in Rumänien finanzieren – jedes Drogengeschäft würde sich da mehr auszahlen.“

Wird der Teufel also nur an die Wand gemalt, von Medien und Politikern? Wäre man vor Gericht, dann müsste man jetzt festhalten: Aussage gegen Aussage. Denn der Ermittler Gerald Tatzgern erzählt von einer anderen Welt. Von vierstöckigen Villen, erbaut von erbetteltem Geld. Menschenhändlern, die nicht davor zurückschrecken, redefreudigen Bettlern die Zunge herauszuschneiden. Und einem knapp vierstelligen Geldbetrag, der nur von einem Mann, an einem Tag, am Reumannplatz erbettelt worden sein soll.

Eine Liste, eine Dunkelziffer

Hinter der grauen Sicherheitstür hängen leuchtende Eiszapfen und Lametta von der Decke. Auch der kleine Christbaum neben der Sitzecke im Büro gegen Menschenhandel ist schon geschmückt. „Ich mag es gern, wenn der Raum eine positive Stimmung ausstrahlt“, sagt Tatzgern, der im Bundeskriminalamt die Bekämpfung von Schlepperei leitet. Hier, auf der Bank neben dem Plastikbaum, warten Bettler, die zur Einvernahme kommen.

Durch seine Ermittlungen hat Tatzgern eine ganze Liste an Namen: In Wien gebe es demnach derzeit mindestens 450 Personen aus Rumänien, knapp 300 Personen aus Bulgarien und kleinere Gruppen aus der Slowakei und Ungarn, die betteln. „Hinter den Zahlen haben wir konkrete Namen, das ist also eine Hellziffer“, sagt Tatzgern. „Wie hoch die Dunkelziffer ist, das kann wohl niemand sagen.“

Tatzgern unterteilt die Bettler in Gruppen. Dann spricht er von den selbstbestimmten Armutsbettlern, dem organisierten Betteln und dem Menschenhandel. Nicht von vielen Fällen der letzteren Gruppe, bei der man etwa eine gewisse Summe erbetteln muss, damit man nicht mit Schlägen oder anderen Repressalien bestraft wird, wisse das Bundeskriminalamt. Um die zehn Verurteilungen habe es in den letzten Jahren lediglich in Österreich gegeben. Aussagen von Opfern gebe es nämlich kaum. „Auch, weil sie oft zur selben Familie, demselben Clan, gehören.“ Und die Hintermänner seien skrupellos: In einem aktuellen Fall, erzählt Tatzgern, hätten Menschenhändler versucht, einem Bettler mit einer Kombizange die Zunge herauszureißen. „Weil er zu viel geredet hat. Sich anvertrauen wollte“, sagt Tatzgern. „Hier, mitten in Wien, der lebenswertesten Stadt der Welt.“

»„Organisiert ist auch eine Pauschalreise, das ist noch nicht automatisch etwas Kriminelles.“«

Gerald Tatzgern

Wo das Strafrecht aufhört, beginnt nun ein Grauzone, in der es durch die verschiedenen Erzählungen, Vermutungen und Schätzungen nicht einfach ist, die Grenze zwischen Armutshilfe und Ausbeutungsgeschäft zu stecken. Wenn Tatzgern von organisierter Bettelei spricht, möchte er jedenfalls nicht das Wort Mafia in den Mund nehmen. „Organisiert ist auch eine Pauschalreise, das ist noch nicht automatisch etwas Kriminelles.“

Wer in Wien organisiert bettelt, begeht eine Verwaltungsübertretung. Was unter die Kategorie der organisierten Bettelei fällt, liege im Ermessen der Streifenpolizisten, heißt es von der Wiener Polizei. Die grobe Definition sei eine „Profitmaximierung“. Heuer habe es deshalb 14 Anzeigen zwischen Jänner und November gegeben. „Das Problem dabei ist, dass das die Realität nicht widerspiegelt“, heißt es von der Polizei dazu. „Es ist anzunehmen, dass die meisten derzeit sichtbaren Bettler Teil einer organisierten Gruppierung sind.“ Diese Gruppen seien professionell organisiert und würden die Rechtslage gut kennen. Die Beweisführung sei deshalb kaum möglich.

Wo ist das Geld?

Auch Tatzgern geht davon aus, dass die meisten Bettler zu einer organisierten Gruppe gehören. Für diese Menschen würde meist, von einem Unbekannten an der Spitze, der Transport nach Wien und eine Schlafmöglichkeit, also eine Matratze, organisiert werden. Oft würden sich die Leute hier schon im Vorhinein verschulden. Der Mittelsmann gebe dafür die Spielregeln vor. Wo und wann gebettelt wird und wo die Menschen zu schlafen haben.

Die Besitzer der Wohnungen, in denen die Bettler schlafen, verdienen gut daran. „Strafrechtlich ist das noch nicht relevant. Und man muss keinen Finger rühren: Sie haben ja den Deal, dass die Bettler hier nächtigen müssen“, erklärt Tatzgern. Er kenne Fälle, in denen jemand 70 Wohnungen vermietet oder untervermietet habe. Dort hätten jeweils rund 20 Bettler gelebt. „Rechnen Sie das aus – dann geht es plötzlich um sehr viel Geld.“ Auch Rauchberger beobachtet solche prekären Wohnsituationen: „Die Leute haben Angst, gar keinen Schlafplatz zu haben“, sagt sie. „Die Wenigsten wehren sich deshalb.“

»"Ich glaube, man braucht keine Kriminalschulung, um sich zu fragen: Geht das mit rechten Dingen zu?"«

Gerald Tatzgern

Bei der Frage hingegen, wie viel Geld ein Bettler selbst einnimmt, scheiden sich die Geister. 20, 30 Euro am Tag seien in Wien das Minimum, sagt Tatzgern nämlich. „Sonst macht man irgendwas falsch.“ Er kenne auch Bettelnde, in deren Becher im Lauf des Tages 300 Euro landen. „Und es gibt Ausreißer nach oben“, sagt er. „Etwa ein Bettler, der am Reumannplatz bis zu 1000 Euro am Tag bekam.“

Das Geld bleibe jedoch nicht lang in den Bechern und Hüten der Bettler. „Oft gibt es jemanden, der den Bettlern das Geld abnimmt, darauf aufpasst und es angeblich auch wieder zurückgibt“, so Tatzgern. „Aber ich glaube, da braucht man keine Kriminalschulung, um sich nun zu fragen: Geht das mit rechten Dingen zu?“ Eine Frage, die Tatzgern, nachdem er 19 Jahre zur Bettelei ermittelt hat, selbst nicht vollständig beantworten kann: „Ich weiß es nicht.“ Meistens seien es aber die Menschen auf der Straße, die vom erbettelten Geld am wenigsten abbekommen würden, vermutet Tatzgern.

Denn da gebe es noch diese Villen, drüben in Rumänien. Clanchefs hätten dem Ermittler höchstpersönlich ihre vierstöckigen Häuser gezeigt, erbaut durch erbetteltes Geld ihrer Leute. „Sie haben mir genau erklärt, warum sie diese Villen ,Wien‘ getauft haben.“

Eine Glaubensfrage

Nun anzunehmen, dass sich die Bettler als Opfer sehen, sei falsch. Eine makabere Win-win-Situation sei es: „Für die Bettler ist das Geld, das ihnen bleibt, noch immer ein Vermögen“, sagt Tatzgern. „Und wir erkaufen uns ein gutes Gewissen, wenn wir eine Münze in den Becher werfen.“

Eine Empfehlung, ob man Bettlern auf der Straße Geld geben soll, wollen weder Caritas noch Tatzgern aussprechen. Eine Frage des Bauchgefühls, heißt es dann. Des eigenen Ermessens. Selbst spende Tatzgern aber lieber per Kreditkarte: „An konkrete Projekte, in den Ländern selbst.“

Lexikon

Selbstbestimmtes Betteln aufgrund von Armut ist legal.

Organisiertes Betteln dient laut der Polizei der Profitmaximierung und ist eine Verwaltungsübertretung.

Menschenhandel ist die Ausbeutung durch Bettelei und eine Straftat. In den letzten Jahren gab es zehn Verurteilungen hier in Österreich, heißt es vom Bundeskriminalamt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2019)

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