Völlig unerwartet hat Putin seine Rede zur Lage der Nation vorverlegt. Der wirtschaftliche Stillstand zwang ihn dazu. Überwinden kann er ihn nicht mehr, weil er eine Geisel seines eigenen Systems ist. Diesem drohen noch dazu zwei Gefahren.
Moskau/Wien. Der Kreml-Chef hat es heuer offenbar eilig. In früheren Jahren hatte er sich mit seiner Rede an die Nation bis März Zeit gelassen. Nun aber, am Beginn seiner dritten Dekade an der Macht, sieht alles danach aus, als wäre Gefahr im Verzug. Er werde bereits am 15. Jänner vor die beiden Parlamentskammern treten, ließ er völlig unerwartet vor eineinhalb Wochen wissen. Die „Überwindung des Stillstandes bei den Einkommen“ und die „Überwindung der Armut“ wolle er thematisieren, sagte er. Es solle um Entscheidungen gehen, die getroffen werden müssen.
Wladimir Putin hat in der Tat Handlungsbedarf. Denn während es für ihn weltpolitisch fast wie am Schnürchen läuft, bewegt sich zu Hause nichts so recht, wie er das gerne hätte. Vor allem die Wirtschaft will und will zu keinem Wachstum zurückkehren, das diesen Namen auch verdiente. Das BIP hat im Vorjahr gerade einmal um 1,3 Prozent zugelegt, schätzt das Wirtschaftsministerium. Das ist weniger als die Hälfte des globalen Wachstums. Und ein extrem schwacher Wert für ein Schwellenland, das gewaltigen Aufholbedarf hat und vor der Finanzkrise 2008 noch mit Wachstumsraten von über sieben Prozent glänzte.
In der Stagnation gefangen
Russlands Wirtschaft kommt nicht mehr auf die Beine. Dass der nötige Sprung vom rohstoffgetriebenen Modell mit seinen steil steigenden Löhnen bei geringer Produktivität hin zum investitionsgetriebenen Modell schwierig werden würde, hatte sich schon in den Jahren vor 2014 gezeigt. Die wirkliche Ernüchterung kam dann mit dem radikalen Ölpreisverfall im Sommer 2014 und den westlichen Sanktionen aufgrund der Krim-Annexion. Was folgte, waren zwei Jahre Rezession. Die Armut stieg rapide an. Die real verfügbaren Einkommen sanken zum ersten Mal seit Putins Machtantritt. Mit 2017 ist immerhin das Wirtschaftswachstum zurückgekehrt. Allein, es bleibt mau. „Wir sind im Zustand der Stagnation gefangen“, sagte Wladimir Tichomirow, Chefökonom der Investgesellschaft Global BCS, zur Wirtschaftszeitung „Wedomosti“.