Milde statt Schärfe beim Wettlesen in Klagenfurt – und postapokalyptische Impressionen. Kein Text war so schlecht, dass er eine Vernichtung verdient hätte und keiner so gut, um als Favorit gehandelt zu werden.
Die Bachmann-Preisträgerin von 1998, Sibylle Lewitscharoff, tat sich leicht, in ihrer elften „Klagenfurter Rede zur Literatur“ die Niederlage zum Thema zu machen. Sie hat den Moment nicht erlebt, in dem ein Wort eines Jurymitglieds den Totalabsturz bedeuten kann. Recht hat Lewitscharoff damit, dass wir „gottlob in weichen Zeiten“ leben, in denen „die Abneigung der Kritiker sich eher mürrisch ausdrückt denn scharf“.
Man ist milde geworden beim Wettlesen in Klagenfurt. Vielleicht hat das nicht nur mit der Jury zu tun: Meike Feßmann, Karin Fleischanderl, Paul Jandl (A), Hildegard Elisabeth Keller, Alain Claude Sulzer, Hubert Winkels (neu) und Burkhard Spinnen (Vorsitz). Möglicherweise hat es auch mit den Texten zu tun. Zur Halbzeit der „Tage der deutschsprachigen Literatur“ war kein Text so schlecht, dass er eine Vernichtung à la Reich-Ranicki gerechtfertigt hätte. Allerdings war auch kein Beitrag so gut, dass sich ein Favorit ausmachen ließe. Zwar wurde dem Text von Aleks Scholz mit dem Titel „Google Earth“ vom Juryvorsitzenden Perfektion attestiert, aber nur, um anzufügen, dass ebendies das Problem sei. „Die Figuren sind zugerichtet von Anfang an“, so Burkhard Spinnen, sie wären alle herzlos und „von vorneherein verloren und verdammt“.
Für Paul Jandl bildete dieser Text „eine mathematische Versuchsanordnung“, er „funktioniert fast wie eine Gleichung, die aufgeht“. Für den bisherigen Verlauf der Veranstaltung war der aus der Perspektive von Google Earth auf zwei Schrebergärten geschriebene Text symptomatisch. Als literarisches Produkt ist er mehr oder weniger perfekt. Es ist ihm damit aber auch jegliche Lebendigkeit, jede Persönlichkeit ausgetrieben. Diese Prosa hat so gut wie nichts mehr mit ihrem Erzeuger zu tun, nichts damit, was ihn bewegt, berührt, beschäftigt.
Karin Fleischanderl sprach deshalb auch von „einem kalten Blick auf die Wirklichkeit“. Nicht ganz so kalt, aber ebenso verkopft war der Blick des von ihr an den Wörthersee geladenen Thomas Ballhausen (35), Wiener. Er startete Freitagmorgen mit einem Metatext zur Literatur. Hubert Winkels nannte ihn einen „poetologischen Text“, der die Frage aufwirft: „Warum wird Literatur gemacht?“ Antwort gab's darauf keine. Debattiert wurde deshalb viel darüber, ob Ballhausens Beitrag Geheimnisse bewahre oder ob es darin, wie es im ersten Satz heißt, „nichts mehr zu entschlüsseln“ gäbe. Einig war man sich darin, dass es sich um einen postapokalyptischen Text handle.
Fragmente in fragmentierter Welt
Damit schloss Ballhausen an Dorothee Elmiger (25) an. Auch sie verbreitete Endzeitstimmung. Eine „Feier des Fragments in einer fragmentierten Welt“ bescheinigte die Schweizer Jurorin Hildegard Elisabeth Keller ihrer Landsmännin. Niederlage und Niedergang liegen in Klagenfurt diesmal offenbar eng beisammen. Allen bisherigen Texten fehlte es an Vitalität und Leidenschaft. Der „Klagenfurter Literatur“ nach zu schließen, leben wir bereits in einer postapokalyptischen Zeit. Wir wissen es nur noch nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2010)