In den USA steigt in der Krise die Zahl jener, die sich kein Essen mehr leisten können. Lokalaugenschein bei einer Ausgabestelle für Bedürftige in Brooklyn.
Deutlich früher als sonst öffnet Cheryl Murray die Pforten ihrer „Food Bank“, einer Essensausgabe für Bedürftige in der South Portland Street in Brooklyn. Die rüstige 68-Jährige trägt Leggins, einen rosa Pulli, weiße Handschuhe, blaue Maske. Murray leitet die Sozialeinrichtung. „Normalerweise sperren wir immer am späten Nachmittag auf“, erklärt die gebürtige New Yorkerin, die unweit von hier, im Stadtviertel Bedford-Stuyvesant, wohnt. Doch nun habe man wegen des Andrangs die Öffnungszeiten geändert.
Die Uhr an der Spitze des nahe gelegenen Hanson Tower zeigt kurz nach zwölf, die Mittagssonne scheint und die Schlange vor der Ausgabe reicht bis um den Häuserblock. Mehr als 300 Menschen warten geduldig auf eine der Taschen. Heute gibt es Fertighuhn, Gemüse und Bohnen in Dosen.
Schon im Vorjahr, als von Corona und Massenarbeitslosigkeit noch keine Rede war, konnten sich laut der Organisation City Harvest 1,2 Millionen New Yorker – also in etwa jeder siebente Einwohner – ab und zu kein Essen leisten. Im Zuge der aktuellen konjunkturellen Talfahrt steigt diese Zahl rasant an. Offizielle Schätzungen gibt es noch nicht, zu jung ist die Corona-Rezession, die im März mit dem schlagartigen Herunterfahren der Wirtschaft ihren Ursprung genommen hat.
Das Ausmaß der Armut in einer der reichsten Städte der Welt lässt sich lediglich erahnen, an Ausgabestellen wie hier, inmitten von Brooklyn. „Manche Leute kenne ich, sie kommen schon jede Woche hier vorbei“, sagt Murray und deutet auf die Wartenden. „Aber viele sehe ich zum ersten Mal, und es werden immer mehr und mehr.“