Pro und Contra

Neue Kompetenzen für die EU?

Der Architekt und Designer Rem Koolhaas hat mit seinem Farbcode die Vielfalt der EU dargestellt. Für das Haus der Europäischen Geschichte (Brüssel) gestaltete er ein meterlanges Buch, das die vielen EU-Regeln symbolisiert.
Der Architekt und Designer Rem Koolhaas hat mit seinem Farbcode die Vielfalt der EU dargestellt. Für das Haus der Europäischen Geschichte (Brüssel) gestaltete er ein meterlanges Buch, das die vielen EU-Regeln symbolisiert.(c) R. Koolhaas
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Ein Pro und Contra von Wolfgang Böhm und Oliver Grimm.

Ja

Es wäre ein fataler Fehler, eine Weiterentwicklung der EU zu behindern. Die Union muss ständig angepasst werden, um sich neuen Herausforderungen zu stellen. Das muss nicht in einem Superstaat enden, wenn gleichzeitig auf ein schlankes, effizientes Regelwerk gesetzt wird.

Von Wolfgang Böhm

Wien. Im „Haus der europäischen Geschichte“ in Brüssel ist eine Installation des niederländischen Architekten und Designers Rem Koolhaas ausgestellt: Ein viele Meter breites Buch, das all die Verträge und Gesetze der EU veranschaulichen soll. Über Jahrzehnte sind die Aufgaben und Gesetze dieser Gemeinschaft angewachsen. Und es mag nicht verwundern, dass sie mittlerweile als zu üppig wahrgenommen werden. Als Österreich 1995 der EU beigetreten ist, musste es 60.000 Seiten an Rechtsakten aus dem Amtsblatt der Union übernehmen. Inzwischen sind es fast 100.000 Seiten geworden.

Diese Gesetzesflut, die viele vor einer überbordenden Kompetenz der EU warnen lässt, hat allerdings vor allem eine Überschrift: der Binnenmarkt. Das Funktionieren eines fairen Wettbewerbs zwischen den 27 Mitgliedstaaten bei Waren, Dienstleistungen und auf dem Arbeitsmarkt verlangte eine ständige Weiterentwicklung des Rechts. Dabei entstanden zweifelsfrei auch unnötige Regelungen wie die versuchte Einflussnahme auf Parfum-Ingredienzien oder das Verbot der Verwendung von Olivenöl-Kännchen, das letztlich nicht in Kraft trat.

Ganz anders ist diese Dynamik bei Politikfeldern, in denen die Mitgliedstaaten zwar ein gemeinsames Vorgehen geplant, dies aber aus nationalen Interessen nicht ausreichend umgesetzt haben. Hier gibt es zu wenig klare Regeln. Das betrifft etwa die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung von Terrorismus oder die lediglich in Ansätzen bestehende gemeinsame Gesundheitspolitik.

„Mit jeder Krise hat sich die Europäische Union weiterentwickelt“, argumentierte einer der profundesten EU-Experten, der deutsche Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld. So ist es auch im Fall der Coronapandemie möglich, dass sie der Auslöser für eine stärkere Kooperation im Gesundheitssektor wird. Im Fall der Terroranschläge haben die sonst gern auf ihre Kompetenzen beharrenden EU-Regierungen ebenfalls erkannt, dass eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit sinnvoll wäre.

Die EU aus Prinzip dabei zu bremsen, sich weiterzuentwickeln, hat noch nie funktioniert. Letztlich obsiegt die faktische Notwendigkeit über Ängste vor einem Souveränitätsverlust. Das war so in den 1970er-Jahren, als die Ölkrise und die wachsende Konkurrenz aus Ostasien die europäische Wirtschaft schwächte. EU-Kommissionspräsident Jacques Delors gelang damals, mit der Entwicklung des Binnenmarkts eine Gegenstrategie zu entwerfen. Sie sorgt bis heute dafür, dass der Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung in Europa stabil bleiben. Das war aber auch in den 1990er- Jahren so, als das Europäische Währungssystem (EWS) zusammenbrach und in der Europäischen Union damit begonnen wurde, eine gemeinsame Währung zu entwickeln. Der Euro brachte Europa seit seiner Einführung eine der stabilsten Währungsphasen seiner Geschichte.

Als in den 2000er- Jahren die Finanz- und Schuldenkrise Europa heimsuchte, stellte sich zum einen heraus, dass der Euro die Kraft besitzt, auch solche Schocks zu verdauen. Zum anderen wurden mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie mit neuen Regeln für Banken und Staatshaushalte Instrumente geschaffen, um derartige Krisen künftig leichter einzudämmen.

Jede dieser Weiterentwicklungen der EU war zu Beginn kritisiert worden, weil sie Kompetenzverschiebungen von der nationalen auf die europäische Ebene mit sich brachten. In all diesen angesprochenen Fällen – Binnenmarkt, Euro und Finanzkrisenmanagement – war es aber letztlich sinnvoll, gemeinsam vorzugehen. Auch in Zukunft wird die EU mit Problemen konfrontiert sein, die nur grenzüberschreitend gelöst werden können. Dies betrifft den Klimawandel genauso wie die Migration.

Das Problem der massiven Zuwanderung in die EU muss allein deshalb gemeinsam gelöst werden, da sonst das Schengenabkommen mit offenen Binnengrenzen nicht mehr umsetzbar ist.

Migrationspolitik scheiterte – bisher

Warum die EU-Staaten bisher an der gemeinsamen Lösung der Migrationskrise gescheitert sind, hat symptomatische Gründe. Der Aufbau eines gemeinsamen Grenzschutzes wurde durch Mitgliedstaaten gebremst, die um ihre Hoheitsrechte bangten. Ein gemeinsames Asylsystem, das notwendig wäre, um die Auswahl von tatsächlich Schutzbedürftigen an die Außengrenze zu verlagern, wird aus ähnlichen Gründen verzögert. Bei der Migrationspolitik wird offensichtlich, dass gemeinsame Lösungen ein Mindestmaß an Solidarität und eine faire Lastenverteilung benötigen. Dazu waren und sind einige EU-Regierungen bisher nicht bereit.

Daraus den Schluss zu ziehen, dass die EU generell unfähig sei, künftig Probleme gemeinsam zu lösen, wäre fatal. Ob Klimawandel, Digitalisierung, wirtschaftlicher Protektionismus von Weltmächten wie China oder den USA, ob neue sicherheitspolitische Bedrohungen in der Nachbarschaft – die europäischen Staaten werden in den nächsten Jahren auf immer neue Themen stoßen, die sie nicht allein bewältigen können.

Für ihr gemeinsames Handeln eine rechtliche Grundlage zu schaffen, muss nicht automatisch die Entwicklung eines Superstaats bedeuten. Zwar zieht jede Bürokratie – auch die europäische – naturgemäß Entscheidungsgewalt an sich, doch wären die EU-Regierungen und das Europäische Parlament gut beraten, das von ihnen zu beschließende Regelwerk schlank zu halten beziehungsweise in einigen Bereichen sogar wieder zu reduzieren. Insbesondere bei den ausufernden Binnenmarktregeln oder bei der gemeinsamen Agrarpolitik gäbe es zahlreiche Möglichkeiten für Streichungen oder Vereinfachungen.

Dass die EU-Bevölkerung nicht hinter einer Weiterentwicklung der Union stünde, ist eine gefährliche selbst erfüllende Prophezeiung einzelner Politiker. Sie schüren nämlich damit unnötige Ressentiments gegen das weiterhin notwendige gemeinsame Europa. Insbesondere in Zeiten von Krisen – wie aktuell der Coronakrise – wäre die Zustimmung für ein gemeinsames europäisches Vorgehen sogar besonders hoch.

Nein

Grenzen, Rechtsstaat, Außenpolitik – die Europäische Union hat einen Punkt erreicht, von dem aus jeder weitere Schritt der Integration den Willen zur Schaffung eines Bundesstaates voraussetzen würde. In dessen Ermangelung wäre es klüger, die bestehenden Möglichkeiten zu nutzen.

Von Oliver Grimm

Brüssel. Nicht lang muss man suchen, um das strukturelle Problem der Europäischen Union zu finden. Gleich in der Präambel des Vertrags von Maastricht, der sie aus den bisherigen Europäischen Gemeinschaften zusammenfügte, betonen die Staats- und Regierungschefs der damals zwölf Mitglieder ihre Entschlossenheit, „den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen“. Das kann man natürlich als lyrische Gebrauchsprosa überblättern. Doch in solch wichtigen Verträgen bleibt kein Wort, kein Beistrich, kein Punkt dem Zufall überlassen. Eine immer engere Union, deren Entscheidungen so nahe wie möglich beim Bürger getroffen werden: Das ist seit jenem 7. Februar 1992, als in Maastricht die Tinte der Signatare zu trocknen begann, Anspruch und Fluch der Union zugleich.

Ja, Fluch. Allzu schnell fiel in Vergessenheit, dass dieser Maastrichter Vertrag beinahe von den Franzosen in ihrer Volksabstimmung abgelehnt worden wäre, und nur mit der denkbar knappen Mehrheit von 51,04 Prozent angenommen wurde. Schon wenige Monate nach dem feierlichen Staatsakt zeigte sich also, wie holprig sich der Anspruch, eine immer engere Union zu bauen, auf das Versprechen reimt, die Entscheidung darüber so bürgernahe wie möglich zu treffen. Vor diesem Spannungsverhältnis konnte man danach noch 13 Jahre lang die Augen verschließen. Mit der französischen und niederländischen Ablehnung des Vertrags über eine Verfassung für Europa war jedoch 2005 klar: Die Bürger, die man so umfassend einzubinden gelobt, sind für eine vertiefte Union nicht zu haben.

Keine Mehrheit für „Vereinigte Staaten“

Wozu dieser Rückblick, wo es hier um Ausblick gehen soll? Weil die Union heute jenen Punkt erreicht hat, von dem aus jeder weitere Schritt zu ihrer Vertiefung den Willen zur Schaffung eines Bundesstaates voraussetzen würde. Doch für solche „Vereinigte Staaten von Europa“ gibt es nirgendwo in Europa eine Mehrheit. Wieso die Schaffung einer bundesstaatlichen Struktur für die EU der einzige logische Schritt in die Zukunft ist, wenn sie ihrem Axiom von der immer engeren Union treu bleiben will, ist anhand ihrer drei wichtigsten politischen Fragen schnell erklärt. Erstens wird es ohne die Schaffung einheitlicher, einem gemeinsamen Kommando unterstehender Grenzschutz- und Asylbehörden nie gelingen, das fatale Zusammenspiel zwischen löchrigen Außengrenzen und einem Weiterschieben der Verantwortung für irreguläre Migranten zu beenden.

Man kann das an den unwürdigen Szenen in der Ägäis beobachten, wo Einheiten der vermeintlich gemeinsamen EU-Grenz- und Küstenwache Frontex von der griechischen Marine zur Komplizenschaft völkerrechtswidriger Abdrängungen von Bootsmigranten genötigt werden. Wäre nur eine EU-Grenzschutzbehörde zuständig, unter Abschaffung aller nationalen Grenzpolizisten, gäbe es eine klare gemeinsame europäische Zuständigkeit. Und würde eine EU-Asylbehörde sich um die Abwicklung aller Asylverfahren sowie die Verteilung und Versorgung der anerkannten Flüchtlinge kümmern, gäbe es kein Weiterwinken von Migranten und keine gegenseitigen Erpressungen in der Frage, wer wie viele unter welchen Bedingungen aufnehmen muss. Doch europäische Pendants der U.S. Customs and Border Protection oder der U.S. Citizenship and Immigration Services wird es nie geben. Die Wette darf man wagen.

Ähnlich verhält es sich beim aktuell größten Brandherd, der Rechtsstaatlichkeit. Was genau gedenkt Brüssel zu tun, wenn Ungarns und Polens nationalautoritäre Regierungen den Rechtsstaat als dekadentes westliches Umerziehungsprojekt schmähen? In einem Bundesstaat gäbe es Zwangsmittel, könnte man die Regierung eines Gliedstaates, der sich der gemeinsamen, verfassungsgemäßen Grundordnung widersetzt, absetzen. In der EU hingegen gibt es nur die Hoffnung, dass die Problembären in Warschau und Budapest entweder einlenken oder baldigst abgewählt werden.

Erweiterung vs. Weltpolitikfähigkeit

Beides sind keine Grundlagen für die Bildung jenes starken europäischen Staatswesens, das sich entschlossen den Zumutungen und Herausforderungen der Zukunft entgegenstemmt: Klimawandel, digitale Revolution, die globale Machtverschiebung zu totalitären Regimen. Womit wir bei der dritten politischen Schlüsselfrage angekommen wären, an deren Beantwortung sich erhellt, wieso der Integrationszug auf unbestimmte Zeit auf dem Abstellgleis bleiben dürfte: Außenpolitik. Hier widersprechen sich zwei erklärte Ziele der Union. Sie will sich um die sechs Westbalkanstaaten vergrößern, zugleich aber ein gewichtiger Akteur auf der Weltbühne werden. Tatsächlich schwächt jeder Beitritt eines weiteren kleinen Landes die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU. Denn mit jedem neuen Mitglied steigt die Wahrscheinlichkeit neuer Vetos. Kein neuer Mitgliedstaat wird an der Eintrittstür der EU die Vetokarte abgeben. Sie ist seine politische Lebensversicherung.

In Abwandlung des berühmten Zitats des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, muss man festhalten: Die Idee der immer engeren Union lebt von der Bereitschaft, einen Bundesstaat schaffen zu wollen, die sie selbst nicht herbeiführen kann. Statt sich im Luftschloss der Konferenz über die Zukunft Europas zu verirren, die in den nächsten Monaten zu tagen beginnen soll, wäre es klüger, die Möglichkeiten des EU-Vertrags zu nutzen, um die Union besser funktionieren zu lassen. Eine kleinere Kommission, eine EU-Staatsanwaltschaft, die im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit auch gegen grenzüberschreitenden Terrorismus ermittelt, eine gemeinsame Einlagensicherung für die Sparer, die Verkleinerung antiquierter Ausgabenbereiche wie der Agrar- und der Regionalpolitik bei gleichzeitiger Vergrößerung von Bildungs- und Forschungsausgaben: all das wäre schon jetzt keine Science-Fiction.

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