Die Rückschläge des gescheiterten Verfassungsvertrags 2005 und des Brexit-Referendums 2016 haben in den Ideenschmieden den Appetit auf hochtrabende Utopien für die Union verdorben. Pragmatisches Augenmaß ist das Leitmotiv im Umgang mit der Zukunft.
Zur Jahrtausendwende hatte der utopische Optimismus in Europas Hauptstädten seine bisher letzte Hochzeit. Im März 2000 verkündeten die Staats- und Regierungschefs der Union ihre Lissabon-Strategie: Bis zum Jahr 2010 gelobten sie, die Union „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“.
»„Europa als gallisches Dorf am Rand Asiens – diese Variante ist nicht auszuschließen.“«
Stefan Lehne, Carnegie Europe
Daraus wurde bekanntlich nichts. Und von den Vordenkern, die den Boden für die kühne Prognose bereitet hatten, hörte man seither nicht mehr viel. Wenn man heute mit führenden Denkern in den Brüsseler Ideenschmieden darüber spricht, wo sie die Union in zehn, 20 oder 50 Jahren sehen, bekommt man durchwegs pragmatische, nüchtern-realistische Antworten. Keiner sieht Europa als globale Führungsmacht. „Im Prinzip ist alles offen“, sagt Stefan Lehne von Carnegie Europe. „Die Variante von Europa als gallischem Dorf am Rand Asiens ist nicht auszuschließen. Andererseits ist auch ein völliger Zerfall möglich, auch wenn ich das absolut nicht für die nähere Zukunft sehe. Aber wenn Europa im zu erwartenden Konflikt zwischen den USA und China instrumentalisiert und geschwächt wird, könnte es zerrieben werden.“
»„Ich wäre nicht überrascht, wenn sich das Europa konzentrischer Kreise vertieft.“«
Guntram Wolff, Bruegel
Guntram Wolff, Direktor des auf Fragen der Ökonomie fokussierten Thinktanks Bruegel, sieht eine Verfestigung des Phänomens, dass die Union sich in mehreren Geschwindigkeiten entwickelt. „Ich wäre nicht überrascht, wenn sich in zehn Jahren das Europa der konzentrischen Kreise, das es ja ohnehin schon gibt, vertieft. Die Debatte darüber wird man nach dem Brexit offener führen können. Derzeit gilt ja noch die Devise der Einigkeit der 27. Ich halte diese Diskussion für wichtig. Nicht jeder Mitgliedstaat muss zum Beispiel auch in der Fiskalunion sein.“ Man dürfe diesen Trend aber nicht mit einem Zerfall verwechseln: „Daraus sollte man kein Drama machen. Das ist dann einfach so. Denn man übernimmt sich, wenn man alle in die Währungsunion hineinbekommen will.“ Es sei „ahistorisch, alle Staaten über einen Kamm scheren zu wollen. Dafür ist das Zentrum Europas nicht stark genug.“
Neue Verträge sind utopisch
Einzig eine Utopie gebe es derzeit in der Union: jene, wonach wie bisher die Staats- und Regierungschefs auf Gipfeln Vertragsänderungen ausknobeln. „Dieser klassische Ansatz ist zu riskant geworden“, gibt Lehne zu bedenken. Die Ablehnung des Vertrags über eine Verfassung Europas vor 15 Jahren ist ein bleibendes Trauma.
Die Union werde sich aber trotzdem weiterentwickeln, in kleineren Schritten. „Man versucht, in Sachthematiken durch Soft Law oder Sekundärrecht Dinge voranzutreiben“, sagt Lehne. Die EU-Staatsanwaltschaft ist das prominenteste Beispiel für die verstärkte Zusammenarbeit zwischen willigen Mitgliedstaaten. Positiv sei auch der geplante EU-Wiederaufbaufonds, fügt Wolff hinzu. Der fußt auf jahrelangen Vorarbeiten in den Thinktanks: „Da wurde lang für so etwas appelliert. Steter Tropfen höhlt den Stein.“
Was muss nun passieren, um die Weiterentwicklung der Union planen zu können? Noch vor Jahresende dürfte der deutsche Ratsvorsitz die Konferenz über die Zukunft Europas einläuten, vermutet sagt Janis Emmanouilidis, Studienleiter des European Policy Centre. Die sollte aber kein „Reflexionsprozess oder eine teleologische Debatte über die Finalität der Union sein. Wir brauchen keine erneute Debatte darüber, wie Europa in zehn, 20, 30 Jahren aussieht, worauf wir uns eh nicht einigen können, und wo dann noch etwas dazwischenkommt“. Vielmehr sollte die Konferenz „Druck generieren, dass man die Dinge, die man sich auf die Fahnen geschrieben hat, auch umsetzt“. Das betreffe vor allem Klimapolitik und digitale Wende: „Diese Transformationsthemen werden uns in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen.“