Der ökonomische Blick

Die entbehrliche Diskussion über die "wahre" Bedeutung des Tourismus in Österreich

Die Presse (Clemens Fabry)
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Immer vehementer wird in der Wirtschaftspolitik ein Wettbewerb der Branchen um ihre Bedeutung im Gefüge einer gesamten Volkswirtschaft diskutiert. Aber wie sinnvoll ist das?

Keinem Wirtschaftszweig wird in der Pandemie mehr öffentliches Augenmerk geschenkt als dem Tourismus. Die Frage, ob wir in den Weihnachtsferien die Skier anschnallen dürfen oder nicht, bewegt die ganze Nation. Nur zu gerne wird dabei auf die große volkswirtschaftliche Bedeutung hingewiesen, die dem Tourismus zukommt. Mit den Zahlen nimmt man es dabei nicht so ganz genau: Von 750.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Rede, die am Tourismus hängen, und gar von einem Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung Österreichs. Einem Faktencheck halten diese Zahlen nicht stand:

Das vom Tourismusministerium beauftragte und von Wifo und Statistik Austria erstelle Tourismussatellitenkonto weist für das Jahr 2019 nominelle Gesamtausgaben von rund 38 Milliarden Euro aus, womit eine direkte Wertschöpfung von 22,1 Milliarden Euro generiert wird (5,6 Prozent des BIP). Einschließlich der wirtschaftlichen Effekte entlang der Vorleistungskette trägt der Tourismus rund 7,3 Prozent zum BIP bei. Nicht unerheblich, aber doch deutlich weniger als ein Viertel. In den sogenannten charakteristischen Tourismusindustrien sind dabei 222.100 Selbst- und Unselbständige tätig (gemessen in Vollzeitäquivalenten), die Miteinbeziehung von indirekten Effekten erhöht diese Zahl auf knapp 306.000 Vollzeiterwerbstätige, das sind 7,8 Prozent aller Vollzeitstellen. Die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus ist aber innerhalb Österreichs von Region zu Region sehr unterschiedlich; so ist etwa Tirol weit stärker vom Tourismus abhängig als beispielsweise Wien oder Niederösterreich.

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Die Krux an den im öffentlichen Diskurs genannten höheren Zahlen ist zum einen die Vermischung von Tourismus und Freizeitwirtschaft: Addiert man zu den oben genannten Zahlen auch noch den geschätzten volkswirtschaftlichen Beitrag der Freizeitwirtschaft, ergeben sich immerhin rund 14,3 Prozent des BIP und rund 625.000 Vollzeitarbeitsplätze. Nun haben beide Bereiche viel gemein: Ein ortsansässiger Skiläufer verwendet dieselbe Seilbahn wie der von weither angereiste Gast und dem Seilbahnunternehmen ist es völlig egal, woher der verdiente Euro stammt. Auch die großen Kultureinrichtungen des Landes bedienen beide Kundensegmente; ohne Einnahmen aus dem Tourismus wäre ihr Angebot wohl deutlich eingeschränkt und so profitieren beide: Touristinnen und Touristen und die einheimischen Besucherinnen und Besucher.

Was ist eine Freizeitaktivität?

Dennoch macht eine Unterscheidung Sinn – sowohl für den einzelnen Unternehmer, der Urlaubsangebote erstellt und im In- und Ausland bewirbt, wie auch für die Tourismusorganisationen und Tourismuspolitik, die Destinationen entwickeln und strategisch positionieren. Darüber hinaus ist eine Freizeitwirtschaft konzeptionell schwer einzugrenzen: Shopping beispielsweise ist einerseits ein Muss für jeden Haushalt und daher im strengen Sinne keine Freizeitaktivität, andererseits wird das "Einkaufserlebnis" sehr wohl von vielen als Freizeitvergnügen erlebt und gelebt. Ähnliche Beispiele lassen sich viele finden und so ist die Abgrenzung einer Freizeitwirtschaft notwendigerweise immer auch ein willkürliche. Die Tourismuswirtschaft hingegen ist klar definiert: „BesucherInnen sind Personen, die zu Orten außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes reisen und sich dort für nicht mehr als ein Jahr aufhalten aus Freizeit- oder geschäftlichen Motiven aufhalten, die nicht mit der Ausübung einer bezahlten Aktivität am besuchten Ort verbunden sind.“ Soweit die Definition der UNWTO, der Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen, die es der Statistik zumindest konzeptionell (relativ) einfach macht, ein Rechenwerk für die Tourismuswirtschaft zu erstellen.

Zum anderen aber stellt sich doch auch die Frage, ob ein Wettbewerb der Branchen um ihre Bedeutung im sektoralen Gefüge einer gesamten Volkswirtschaft, der von Politik und Interessenvertretungen mit Beschäftigungszahlen, BIP-Anteilen aber auch regionalpolitischen Argumenten immer vehementer geführt wird, sinnvoll ist. Eine hoch entwickelte und moderne Volkswirtschaft wäre schlecht beraten, auf nur einem oder wenigen Beinen zu stehen. Sie baut auf innovative Industrieunternehmen, wissensintensive Dienstleistungen oder einen leistungsfähigen Verkehrssektor genauso wie auf Dienstleistungen, die dem Freizeitvergnügen oder touristischen Erlebnissen dienen. Eine diverse Wirtschaftsstruktur vermindert nicht nur das Risiko für das Auftreten weitreichender Krisen, sondern dämpft auch ihre Wirkungen. Alte bzw. monostrukturell ausgerichtete Industrie-, aber auch Tourismusregionen haben deutlich vor Augen geführt, wohin ausgeprägte Spezialisierungsmuster führen können und wie schwer es ist, aus solchen strukturellen Krisen wieder hinauszufinden.

Indikatoren, die die wirtschaftliche Leistung eines Wirtschaftsbereichs beschreiben, sind unzweifelhaft für eine evidenzbasierte Wirtschaftspolitik bedeutend. Auf einen Wettbewerb um die Wichtigkeit von Wirtschaftsbereichen, der noch dazu eine fundierte konzeptionelle wie empirische Basis vermissen lässt, kann man jedoch getrost verzichten.

Der Autor

Oliver Fritz ist Ökonom am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung mit Forschungsschwerpunkten in den Bereichen Tourismus und Regionalökonomie.

Oliver Fritz
Oliver Fritz(c) Foto: Alexander Müller - Fotoku Fotografie Fotoreisen | www.alexandermülle

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