In Israel könnte das Kalkül des Premierministers wieder einmal aufgehen: Rechtzeitig zur Wahl am Dienstag, der vierten in 24 Monaten, sind mehr als die Hälfte der Israelis geimpft. Es herrscht gute Laune – und keine Wechselstimmung.
Spaziert man dieser Tage zur Abendzeit durch Tel Aviv, lässt sich leicht vergessen, dass es hier je eine Pandemie gegeben hat. In den Bars sitzen die Menschen dicht gedrängt, plaudern, lachen, trinken. Vor den Eingängen bilden sich lange Schlangen. Die Stimmung ist gelöst. „Es fühlt sich an, als wären wir aus einem langen Traum erwacht“, sagt eine junge Frau, die gerade zum ersten Mal nach langer Zeit wieder das Nachtleben genießt.
Israel im März 2021 ist ein anderes Land als noch im Jänner. Vor zwei Monaten steckte das Land im Lockdown, der dritten landesweiten Ausgangssperre, die die Regierung zur Eindämmung der Coronapandemie verhängt hatte. Tel Aviv, in sorgloseren Zeiten als Partymetropole bekannt, erschien wie eine Geisterstadt: Die Souvenirläden an der Strandpromenade, die billigen Boutiquen im Süden der Stadt, die eleganten Cafés im Norden, die unzähligen Bars mit ihren hohen Holztischen und Happy-Hour-Angeboten – alle verschlossen und verlassen.
Nun jedoch pulsiert die Stadt wie einst, vielleicht sogar noch mehr – so groß ist der Drang der Menschen, die Monate der erzwungenen Einsamkeit endlich hinter sich zu lassen.
Der Wahlfaktor. Dass in Israel nun möglich ist, wovon die meisten Menschen in Europa nur träumen können, liegt in erster Linie an einer hoch effektiven Impfkampagne. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist inzwischen nahezu vollständig gegen das Virus immunisiert – beste Voraussetzungen für einen Wahlkampf, der in seinen letzten Zügen liegt.
Am Dienstag wählt Israel ein neues Parlament, zum bereits vierten Mal in zwei Jahren. Benjamin Netanjahu, der Langzeitpremier, hatte jedes Interesse daran, die Bürger in gute Stimmung zu versetzen. „Die Wahl ist ein Faktor“, gab selbst der staatliche Coronabeauftragte Nachman Ash kürzlich in einem TV-Interview zu. „Ich bin nicht naiv.“
Von Mitte Dezember an hat Netanjahu die Impfkampagne öffentlich zur Chefsache erklärt, etliche Impfzentren besucht und den Erfolg der Aktion als persönliche Errungenschaft präsentiert. Und es hat zumindest den Anschein, als würden sich manche Wähler überzeugen lassen. In den Umfragen konnte Netanjahus rechte Likud-Partei zuletzt leicht zulegen: Sie steht bei 30 Mandaten. Das sind sechs Mandate weniger als bei der letzten Wahl vor einem Jahr, aber immerhin ein bis zwei mehr als noch vor wenigen Monaten, als die Pandemiebekämpfung der Regierung für viele Bürger erratisch und amateurhaft wirkte.