Unterwegs

Reisen kann uns weise machen

Unser Wesen regrediert ins Kindliche, sobald wir als Touristen reisen.
Unser Wesen regrediert ins Kindliche, sobald wir als Touristen reisen. (c) imago images/Addictive Stock (Alberto Menendez via www.imago-images.de)
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Unser Wesen regrediert ins Kindliche, sobald wir als Touristen reisen. Dabei kann es uns weise machen.

„Wer wissen will, der gehe nach Salamanca“, hieß es einst in Spanien. Heute suchen die Touristen auf einer der ältesten Hochschulen Europas kein Wissen, sondern den Frosch. Vor gut 500 Jahren hat ein Steinmetz auf der plateresken Sandsteinfassade der Alten Universität zwischen Hunderten Fabelwesen eine kleine Kröte versteckt. Sie zu erspähen, bringt Glück. Sie zu suchen, ist der Fremden liebster Zeitvertreib. Noch schöner, als in Gondeln zu schaukeln oder sich von Eseln in ein Bergdorf schleppen zu lassen.

Welche Geringschätzung solch unreifes Verhalten bei Einheimischen in Alltagseile weckt, weiß jeder Wiener, der öfter im Auto einem Fiaker hinterher schleichen muss.

In Salamanca können wir freilich nicht nur Plastikfrösche als Souvenir erwerben, sondern auch Weisheit – wenn wir in der alten Aula auf einer der harten Holzbänke des Humanisten Fray Luis de León gedenken. Den hatte die Inquisition fünf Jahre in den Kerker gesteckt, nur weil er das Hohelied der Liebe in das allen verständliche Spanisch übersetzt hatte. Bei seiner Rückkehr an den Katheder war der Saal voll, atemlos warteten die Studenten auf eine Rechtfertigung oder Abrechnung. Der Professor hob an mit den goldenen Worten: „Wie wir gestern sagten . . .“

Manche meinen, er habe damit den Schergen der Unfreiheit verziehen. Von wegen! Er verachtete sie so sehr, dass er ihr idiotisches Tun mit keiner Silbe würdigte! So oder so: Auch für unsere Rückkehr ins wahre Leben post coronam ist dieses „Decíamos ayer“ ein trefflicher Wahlspruch. Er lehrt Gelassenheit. Und sie ist ein größeres Glück, als jeder Frosch uns bringen könnte.

karl.gaulhofer@diepresse.com

Nächste Woche: Gabriel Rath

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2021)

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