Wie man in Deutschland aus einer Sachfrage ein Glaubensbekenntnis macht.
Stuttgart 21“ – das steht derzeit für ein Aufbegehren von Zehntausenden, für „zivilen Ungehorsam“, für zum Teil gewalttätige Demonstrationen. Es geht den Protestierern – angeblich – um Milliardenverschwendung, um Natur- und Denkmalschutz.
Dass das Projekt in allen einschlägigen Parlamenten mit großer Mehrheit Zustimmung gefunden hat, wird ignoriert. Die Proteste werden nun auf ein „Kommunikationsproblem“ reduziert.
Das ist es wohl in der Tat, freilich anders definiert, als die beteiligten Politiker es meinen. Völlig untergegangen ist nämlich, dass „Stuttgart 21“ Teil eines zukunftsweisenden Verkehrsprojekts ist, an dem vier europäische Staaten großes Interesse haben. Es geht um eine Hochgeschwindigkeitsverbindung von Paris über Straßburg, Stuttgart, München und Wien nach Budapest.
Es geht also um nichts mehr oder weniger als um eine europäische Transversale, um eine Weichenstellung internationaler Verkehrspolitik. Erste Teilstücke sind bereits realisiert: Demnächst wird der TGV von Paris bis Straßburg, immerhin rund 500 Kilometer, in weniger als zwei Stunden fahren.
Tempo 60 auf Schwäbischer Alb
Deutschland aber hinkt hinterher. Lediglich zwischen Karlsruhe und Stuttgart sowie zwischen Augsburg und München wird es demnächst Teilstücke für Hochgeschwindigkeit geben. Ansonsten hat man die Entwicklung bisher verpasst, auf der Schwäbischen Alb zum Beispiel gilt Tempo 60.
Österreich dagegen ist auf der Höhe der Zeit, zwischen Salzburg und Wien stehen die Signale auf Grün, in Linz ist ein hochmoderner Bahnhof entstanden, in Salzburg und St. Pölten ist ein solcher im Bau, der Lainzer Tunnel wird voraussichtlich 2013 fertig (für die Anwohner endet dann das ständige Warten vor den Schranken), der Wiener Hauptbahnhof als Durchgangsbahnhof ist im Entstehen und soll zeitgleich fertig sein. Dann endlich werden die Kopfbahnhöfe aus der Zeit Kaiser Franz Josephs der Vergangenheit angehören.
Deutschland hinkt also hinterher, deshalb sind die Proteste gegen „Stuttgart 21“ unverständlich, Ausdruck provinziellen Denkens.
Kleinkarierte Großproteste
„Die Presse“ hat vor Kurzem darauf verwiesen, dass es auch eine Nord-Süd-Transversale gibt, von Rostock über München bis Rom. Völlig unverständlich müsste in diesem Zusammenhang sein, sollte die „Magistrale für Europa“ von Paris bis Budapest an den kleinkarierten Protesten in Stuttgart scheitern. Ganz nebenbei: Andere Städte würden sich glücklich schätzen, könnten sie mithilfe von Bund und Land ihre lokale Infrastruktur modernisieren.
„Stuttgart 21“ macht freilich auch deutlich, dass Demagogen in Deutschland Hochkonjunktur haben. Die Demonstrationen dort scheinen weniger auf das Bahnhofsprojekt, sondern vielmehr auf die Landtagswahl im Frühjahr gerichtet zu sein. Dass dieses Projekt Arbeitsplätze schafft, Standortvorteile eröffnet, Zukunftsperspektiven generiert, spielt für die Opposition keine Rolle.
Noch ein Zweites zeigt sich: Großprojekte sind mehr und mehr Anlass für Großproteste. Sehr deutsch ist dabei freilich, dass man aus einer Sachfrage ein Glaubensbekenntnis macht und den Anlass für Proteste zur Schicksalsfrage der Nation hochstilisiert. Die Gegner von „Stuttgart 21“ sollten den alten Bahnhof „Jopi Heesters“ nennen – dann könnten sie ziemlich sicher sein, dass er nie unter die Erde kommt.
Prof. Detlef Kleinert begann seine berufliche Laufbahn beim Bayerischen Fernsehen. Er war unter anderem Südosteuropa-Korrespondent der ARD in Wien.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2010)