Interview

Karl Nehammer: „Ich möchte inklusiv sein, nicht exklusiv“

„Ich glaube, dass die ÖVP sich selbst nie verloren hat. Wir sind wieder Volkspartei. Das gilt es fortzuentwickeln“: Karl Nehammer, neuer ÖVP-Chef und Bundeskanzler, auf die Frage, ob die Partei nun wieder schwarz wird.
„Ich glaube, dass die ÖVP sich selbst nie verloren hat. Wir sind wieder Volkspartei. Das gilt es fortzuentwickeln“: Karl Nehammer, neuer ÖVP-Chef und Bundeskanzler, auf die Frage, ob die Partei nun wieder schwarz wird.Die Presse/Clemens Fabry
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Bundeskanzler Karl Nehammer über die Kritik an seinen ersten Personalentscheidungen, seinen neuen Stil, das „faire“ Verhalten der Grünen und sein Vorbild als Boxer.

Sie sind als Kanzler ins Kreisky-Zimmer zurückgekehrt. Weil Bruno Kreisky hier gesessen ist oder weil Sebastian Kurz hier gesessen ist?

Karl Nehammer: Es ist ein typisches Gebäude der Republik, ein Raum der Republik, errichtet nach dem Zweiten Weltkrieg, nach schweren Bombentreffern. Ein Ausdruck der wieder erstarkten Republik. Und es saß ja nicht nur Bruno Kreisky hier, sondern auch Leopold Figl und Julius Raab und viele mehr. Es ist ein besonderer Raum. Ein sehr republikanischer Raum.

Sind Sie jetzt ein Türkiser oder ein Schwarzer?

Beides. Ich finde Türkis eine sehr sympathische Farbe. Entscheidend ist, wofür die Neue Volkspartei steht.

Werden Sie die ÖVP wieder auf Schwarz umfärben?

Ich glaube, dass die ÖVP sich selbst nie verloren hat. Das war eine Farbwahl, die der Bundesparteivorstand damals entschieden hat. Aber noch einmal: Entscheidend sind die Werte, die Inhalte. Wir sind wieder Volkspartei. Wir sind programmatisch neu aufgestellt. Das gilt es fortzuentwickeln.

Wer hat Ihnen angetragen, ÖVP-Chef zu werden? Und wie lang haben Sie überlegt? Hatten Sie Ihr persönliches Projekt Ballhausplatz zuvor schon im Kopf?

Nein, das Projekt in meinem Kopf hat es nicht gegeben. Es war Sebastian Kurz, der mich gefragt hat. Es war dann eine emotionale und rationale Frage. Emotional war es überwältigend, wenn man so Volkspartei-begeistert ist wie ich. Dann begannen die Gespräche, die notwendig sind, mit den Teilorganisationen, mit den Landeshauptleuten, wir sind eine sehr heterogene Partei, keine zentralistische Partei im klassischen Sinne. Und als dann klar war, dass es von großer Einstimmigkeit getragen wird, habe ich es gemacht.

Lassen Sie uns teilhaben an der Ablöse von Heinz Faßmann: Da wurde kolportiert, dass er Ihnen nur aus Höflichkeit seinen Rücktritt angeboten habe, Sie das aber sofort angenommen hätten, weil die Steirer einen Minister in Wien wollten . . .

Ich habe mit allen Ministern gesprochen, ob und wie sie sich die Zusammenarbeit mit mir vorstellen können. Und Heinz Faßmann hat gesagt, wenn ich Bundesparteiobmann werde, dann stellt er mir frei, weil er jetzt auch schon lang gedient hat, dass ich darüber verfügen kann, ob er bleibt oder nicht. Und er findet es total in Ordnung, wenn er sich zurückzieht. In der Parallelität dieses Gespräches hat sich eine Option angeboten mit dem Uni-Rektor von Graz, Martin Polaschek. Heinz Faßmann hat Unglaubliches geleistet, auch in der Pandemie. Faßmann und ich haben uns immer sehr geschätzt. Ich war ihm für seinen Rat, gerade in Fragen der Integration, immer sehr dankbar.

Haben Sie Polaschek zuvor gekannt?

Ja.

Sie haben auch demonstrativ Ihre Nähe und Freundschaft zu Generalsekretär Axel Melchior betont. Nun ist auch er weg . . .

So ein Prozess ist ja enorm intensiv. Wir sind freundschaftlich sehr stark verbunden. Er hat mir zugesichert, so lang ich ihn brauche, bleibt er. Das habe ich auch sofort angenommen. Aber er hat auch klar signalisiert, wenn es eine Möglichkeit gibt, dann möchte er einen geordneten Übergang. Wir haben auch gemeinsam eine Kandidatin für die Nachfolge gesucht und gefunden.

In den sozialen Medien herrschte dann größere Aufregung über das Avancement von Claudia Plakolm zur Staatssekretärin und von Laura Sachslehner zur ÖVP-Generalsekretärin. Haben es junge konservative Frauen schwerer?

Das glaube ich auch. Der Art und Weise, wie Frauen begegnet wird, vor allem in dieser Kritik- und Unterstellungskultur, ohne die betreffenden Personen überhaupt zu kennen. Ich stelle die Gegenfrage: Würde eine junge linke Politikerin eine derartige Chance in einer linken Regierung bekommen – würde sie dann in der Öffentlichkeit ebenso schlecht behandelt werden wie die von Ihnen genannten konservativen Politikerinnen? Dann wäre die Empörung wohl groß, vor allem in den sozialen Medien. Dann würde man den Kritikern Machismus und Altes-Weißes-Mann-Denken vorwerfen. Aber offenbar gelten diese Regeln nur in eine Richtung. Ich habe diese beiden Personalentscheidungen selbst getroffen, weil ich vom Können dieser beiden Frauen überzeugt bin. Sie werden das mit ihrer Arbeit unter Beweis stellen. Im Übrigen sollte man soziale Medien auch nicht überbewerten, sie haben in vielen Dingen, auch in der Pandemie, schon einiges an Schaden angerichtet.

In Ihren ersten Erklärungen fiel ein neuer, anderer Stil auf. Alexander Schallenberg war eher konfrontativ gegenüber der Opposition und den Ungeimpften, Sie haben Appelle an die Ungeimpften gerichtet und auch die Opposition eingebunden. War das Absicht?

Was ich sage, meine ich auch so. Ich möchte inklusiv sein und nicht exklusiv. Man muss die Strategie im Kampf gegen das Virus auch immer wieder anpassen. Sind wir auf dem richtigen Weg? Oder müssen wir nachjustieren? Nun, auch instrumentalisiert von einer Parlamentspartei, ist ein Szenario „Die einen gegen die anderen“ eingetreten. Das ist aber der falsche Weg. Das funktioniert nicht. Es gibt einen Feind, das ist das Coronavirus. Vernichten können wir es nicht, das Virus bleibt uns erhalten. Aber wir können gemeinsam dafür sorgen, dass es unsere Freiheit nicht weiter beschränkt. Um das soll es gehen. Und die Gruppe, die sich nicht impfen lässt, ist eben keine homogene Gruppe, sondern eine heterogene. Da gibt es Unsichere, Ängstliche. Für sie gibt es von mir aus das klare Gesprächsangebot: Wenn ihr mir, einem Politiker, nicht glaubt, dann redet mit eurem Hausarzt, dem vertraut ihr in so vielen Dingen und seit so vielen Jahren. Er oder sie wird euch beraten, was gescheit ist. Natürlich gibt es aber auch eine kleine Gruppe, die unterwandert ist von Rechtsextremen und Staatsverweigerern. Da muss man ganz klare Kante zeigen.

Hätte man nicht auf die Impfpflicht verzichten können?

Wir sind alle Lernende in der Pandemie. Zu Beginn haben uns Experten gesagt, wir werden eine Impfung frühestens zum jetzigen Zeitpunkt haben. Mittlerweile reden wir davon, wie wir Menschen zum dritten Stich bringen. Zu Jahresbeginn wurde noch gefordert, Politiker sollten als Letzte geimpft werden, weil es nicht genügend Impfstoff gibt. Wir haben es mit einem mächtigen Gegner zu tun, der sich immer weiterentwickelt. Wir müssen deshalb immer nachjustieren.

Werden Sie die Abstimmung über die Impfpflicht im Nationalrat freigeben?

Sie fragen einen Vertreter der Exekutive wie die Legislative handeln sollen?

Wie war denn Ihr Gespräch mit FPÖ-Chef Herbert Kickl?

Mit Pamela Rendi-Wagner und Beate Meinl-Reisinger, die uns bei der Impfpflicht unterstützen, waren die Gespräche sehr konstruktiv. Mit Kickl war das Gespräch, wie Sie es sich wahrscheinlich vorstellen: konfrontativ, klar in der Abgrenzung zueinander. Mir ist aber wichtig, dass ich, wir den Dialog nicht beenden. Pluralität ist ein Fundament der Demokratie, aber man muss klar benennen, wann Grenzen überschritten werden.

Die Grünen haben zuletzt viel durchgesetzt, die Verhinderung des Lobautunnels, die Einsetzung eines U-Ausschusses, den Rücktritt von Sebastian Kurz. Wie sehen Sie das?

Eine Koalition ist davon geprägt, dass einmal der eine, dann der andere sichtbarer ist. Die ÖVP ist mit ihren Inhalten im Regierungsprogramm massiv abgebildet. Bei der Steuerreform ist mit der CO2-Bepreisung eine grüne Handschrift sichtbar, die ÖVP wiederum hat sich bei der Entlastung im Umfang von 18 Milliarden durchgesetzt. Wenn beide zufrieden sind, bin ich als Regierungschef zufrieden, dann funktioniert die Koalition.

Haben sich die Grünen immer fair verhalten?

Sie haben sich beim Transformationsprozess in der ÖVP sehr fair verhalten. Ich war in enger Abstimmung mit Werner Kogler und Sigrid Maurer. Auch der Bundespräsident hat sich wertschätzend und vertrauensvoll verhalten.

Ist beim Lobautunnel das letzte Wort gesprochen?

Die Ministerin hat ein Projekt abgesagt, aber das Thema ist nicht vom Tisch. Es gibt ein Gesetz, das den Lobautunnel ermöglicht. Die Umsetzung liegt bei Verkehrsministerin Gewessler. Sie muss und wird alternative Lösungsvorschläge auf den Tisch legen, darauf vertraue ich.

Das Projekt wurde jahrelang geprüft, welche Alternativen kann es noch geben?

Ich maße mir nicht an, auch noch Infrastrukturminister zu sein. Leonore Gewessler hat Alternativen versprochen. Das ist auch wichtig, denn die Belastung und die Bedürfnisse der Menschen in Wien und Niederösterreich, die den Lobautunnel gebraucht haben, sind ja nicht verschwunden. Diese Verkehrsverbindung ist ja kein Selbstzweck.

Was ist das nächste große Projekt der Regierung?

Wo fange ich an, wo höre ich auf? Da gibt es die ökosoziale Steuerreform, die wir auf den Boden bringen müssen. Wir müssen den großen Themenkomplex Pflege angehen. Wir müssen uns der Frage widmen, wie wir Kindern, die Defizite aus dem Lockdown mitgenommen haben, unter die Arme greifen können.

In der Flüchtlingspolitik wollen Sie nichts ändern?

So ist es.

Hält die Regierung bis zum Ende?

Ich gehe davon aus, denn in so herausfordernden Zeiten eine Legislaturperiode mutwillig zu beenden, würde von keinem Menschen verstanden werden. Wir haben viel vor, das Vertrauensverhältnis ist ein gutes. Ich sehe keinen Grund.

Die Regierungsumbildung war von einer unerwarteten Dollfuß-Debatte überschattet. Sie haben den Begriff Kanzlerdiktatur, nicht Austrofaschismus verwendet. Warum?

Wir könnten jetzt auch über den Austromarximus reden, wie dieser von Historikern bewertet wird. Dollfuß hat in seiner Zeit die Demokratie beendet und als Kanzlerdiktator weiterregiert. Für die ÖVP ist der Geschichtsabschnitt klar bewertet, ich sehe keinen Diskussionsbedarf.

Was ist eigentlich die größere Herausforderung: Das Virus zu bekämpfen – oder die Republik zusammenzuhalten?

Ich glaube nicht, dass man das voneinander trennen kann. Das Virus hat uns zu einem gewissen Grad auseinandergetrieben. Es ist ein Paradoxon, das wir auflösen müssen. Niemand hat damit gerechnet, dass die Wissenschaft in so kurzer Zeit dazu in der Lage ist, effiziente Instrumente gegen das Virus zu entwickeln. Wir dürfen bei den Menschen nicht den Eindruck erwecken, dass wir abschließend wissen, wie sich das Virus weiterentwickeln wird. Aber noch nie sind in einer globalisierten Form der Schwarmintelligenz in so kurzer Zeit derartig wirksame Methoden gefunden worden, um eine Pandemie zu bekämpfen. Und wenn es eine neue Mutation gibt, gibt es auch bereits die Antwort der Wissenschaft, wie man ihr begegnet. Dieser Prozess wird weiter gehen. Das Virus wird Teil unseres Lebens sein. Wir müssen uns daran gewöhnen. Wir werden die Maßnahmen gegen die Pandemie ähnlich wie einen Sicherheitsgurt weiter anlegen. Es wird in der Frage der Pandemie Gurtenpflicht herrschen. Das heißt: FFP2-Maske tragen, den Impffortschritt weiter vorantreiben, Medikamente entwickeln. Aber verwechseln wir nicht Ursache und Wirkung. Die Ursache für die gesellschaftliche Spaltung ist das Virus. Und nicht irgendeine politische Gruppierung.

Derzeit sind rund 1,3 Millionen nicht geimpft. Gehen wir davon aus, dass sich 1,1 Millionen davon impfen lassen. Dann wären 200.000 rechtswidrig unterwegs. Was bedeutet das politisch?

Wenn es tatsächlich nur noch eine solch kleine Gruppe ist, dann hat ja das Problem eine ganz neue Dimension. Es gibt ja bereits jetzt Staatsverweigerer, Rechtsradikale, Linksextreme, die den Staat ablehnen. Wenn es uns gelingt, die Gesellschaft derartig stark – im wahren Wortsinn – zu immunisieren, dass diese Gruppe keine Gefahr mehr für sie darstellt, dann haben wir alles erreicht, was wir wollten.

Können Sie ausschließen, dass es einen fünften Lockdown gibt?

Was uns das Coronavirus gelehrt hat, ist, dass man nichts ausschließen kann. Die Wissenschaft gibt uns Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Wenn wir eine hohe Impfquote haben, sind wir in einer ganz anderen Situation. Aber da wir gesehen haben, dass das Virus brandgefährliche Mutationen entwickeln kann, kann ich Ihnen auf Ihre Frage keine Antwort geben. Wir haben jetzt eine Atempause. Wir öffnen unter größtmöglicher Vorsicht, mit strengen Schutzmaßnahmen. Die FFP2-Maske wird ganz wesentlich bleiben. Die Regeln für Versammlungen und Veranstaltungen aller Art werden weiter streng und kontrollierbar sein müssen. Der Sicherheitsgurt muss angelegt bleiben.

Wohin wird Ihre erste Auslandsreise gehen?

Zunächst nach Brüssel zu meinem ersten großen EU-Rat. Danach wäre eine Israel-Reise geplant gewesen, aber die wird schwierig, weil uns das Coronavirus einen Strich durch die Rechnung macht.

Sie sind auch Boxer. Haben Sie ein Vorbild als Boxer?

Ich bin tatsächlich einer, der das Boxtraining schätzt und liebt. Es handelt sich um einen ungeheuer vielseitigen Sport. Es geht ja nicht nur um das Schlagen, sondern vor allem um das Ausweichen und das Einstecken von Schlägen. Das ist eine Analogie zum Leben an sich. Es gibt so viele große Boxer, dass es mir schwer fällt, einen einzigen hervorzuheben. Doch Muhammed Ali war mit Sicherheit einer der größten Schwergewichtsboxer, den die Geschichte der Menschheit jemals gesehen hat.

Haben Sie ein politisches Vorbild?

Ganz klar: Leopold Figl.

Das Interview wurde gemeinsam mit der „Kleinen Zeitung“ und den „Salzburger Nachrichten“ geführt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2021)

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