Neues Buch

Die Grausamkeit braucht Mitleid, sie ist dessen Perversion

Wolfgang Müller-Funk umkreist als Kulturwissenschaftler die wohl erschreckendste menschliche Eigenschaft. Dabei erzählt er viel Interessantes, lässt aber offen, was Grausamkeit wirklich ist. Für deren Verständnis braucht es wohl Psychologie jenseits der freudschen Trieblehre.

„Der Mensch ist das grausame Tier“: So lautet der erste Satz des Klappentexts von Wolfgang Müller-Funks Buch „Crudelitas“, das dann selbst so beginnt: „Grausamkeit ist unmöglich. Es dürfte sie eigentlich nicht geben, dort, wo es menschlich zugehen soll.“ Der Widerspruch ist wohl beabsichtigt – und dieser Eigenschaft immanent: Sie ist unmenschlich, gerade weil sie typisch menschlich ist. Wer einem Löwen, der seine Beute zerreißt, Grausamkeit vorwirft, vermenschlicht ihn. Grausamkeit braucht höheres Bewusstsein, mehr noch: Sie braucht Empathie, zumindest deren Möglichkeit, denn sie ist die Umkehrung, die Perversion des Mitleids. Der Mitleidige leidet am Leiden des anderen, der Grausame weidet sich daran.

Oder ist Grausamkeit, wie der französische Anthropologe Marcel Hénaff meint, ganz im Gegenteil ein „Mangel an Empathie“? Diese Definition entspricht dem, was Müller-Funk die „leidenschaftslose, kühl kalkulierte“ Form der Grausamkeit nennt – im Gegensatz zur „affektiv besetzten“. Doch so schrecklich es ist, wenn Menschen aus Berechnung oder Gleichgültigkeit anderen Menschen wehtun: Man zögert, hier von Grausamkeit zu sprechen. Zu dieser gehört das Skandalöse, das Nietzsche in der „Genealogie der Moral“ beschreibt: „Leiden-sehn tut wohl. Leiden-machen noch wohler.“

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