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Kultur

„Spirituelle Kraft unabhängig von der Religion“

Dietmar Kerschbaum, 1970 in Güssing geboren, war als Tenor zwischen Tokio und der Metropolitan Opera erfolgreich und drückt seit fünf Jahren Brucknerhaus und Brucknerfest seinen Stempel auf.
Dietmar Kerschbaum, 1970 in Güssing geboren, war als Tenor zwischen Tokio und der Metropolitan Opera erfolgreich und drückt seit fünf Jahren Brucknerhaus und Brucknerfest seinen Stempel auf. (c) Rita Newman
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Internationales Brucknerfest 2022. Dietmar Kerschbaum, Künstlerischer Vorstandsdirektor der LIVA, über das Festivalprogramm unter dem Motto „Visionen – Bruckner und die Moderne“.

Die Presse: Bruckner und die Moderne: Von welcher Moderne sprechen wird da? Von den historischen künstlerischen Aufbrüchen aus dem Fin de Siècle rund um 1900 heraus oder von der Gegenwart?

Dietmar Kerschbaum: Für mich als Intendant war von Anfang an wichtig, Anton Bruckner gleichsam neu als Genius Loci zu installieren – ich glaube, man war sich zuvor dieses Werts gar nicht so recht bewusst im Brucknerhaus. Alle unsere thematischen Netze haben wir vom Brucknerfest aus in die Saison weitergeknüpft. Nach den seit meinem Antritt 2018 gestellten Fragen nach Tradition, Sinfonik, Kontroversen mit den Zeitgenossen und zuletzt seinen Schülerinnen und Schülern beziehen wir nun die Moderne sehr bewusst auf die Generation nach Bruckner, die von ihm beeinflusst war und die davon profitieren konnte, was er zuvor schon wie ein Eisbrecher weggeräumt hatte: Ein Gustav Mahler hätte es sonst weitaus schwerer gehabt. Aber wir verfolgen das Moderne an sich, das musikalisch Bahnbrechende, das Bruckner repräsentiert hat, durchaus auch in andere Epochen hinein, seien sie nun historisch vor oder nach ihm eingeordnet.

Das Moderne ist in manchen Publikumsschichten ein nicht gerade geliebter Begriff . . .

In meiner Sängerlaufbahn hat mich über fast zwanzig Jahre hinweg Peter Keuschnigs „Kontrapunkte“-Zyklus im Musikverein begleitet. Das war eine enorm spannende Entdeckungsreise, bei der ich mich anfangs gar nicht ausgekannt habe – aber mit zunehmender Kenntnis und immer mehr Erlebnissen war ich schließlich vollkommen gebannt davon und bereichert. Ich scheue mich nicht, das Brucknerhaus auch als Bildungsinstitution zu begreifen, ja, ich bin sogar überzeugt davon – und schätze mich glücklich, dass diese Verpflichtung auch der Eigentümerseite bewusst ist. Als Intendant muss man letztlich Vertrauen aufbauen: Vertrauen darin, dass wir höchste Qualität anbieten, sowohl bei den Interpreten wie auch bei der Musik selbst. Da ist uns schon einiges gelungen, da wird uns noch mehr gelingen. Aber wenn wir nicht auch neugierig bleiben, dann werden irgendwann nur noch Mainstream und Blockbuster angesetzt werden. Eine solche Verarmung wäre aber ein Grund zum Schämen im Kulturland Österreich. Deshalb werden wir auch mit Freude das bisher biennal stattfindende Festival 4020, bei dem wir lang Kooperationspartner waren, nun nach einem organisatorischen Wechsel als jährliche eigene Veranstaltung übernehmen: Allein die damit verbundenen Kompositionsaufträge sind ungeheuer wichtig und eine Investition in die Zukunft.

Bruckner hatte viele Schüler, auf die er konkret Einfluss genommen hat, von denen aber wenige im Musikleben heute präsent sind. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Komponisten, bei denen man eine Affinität zu Bruckners Musik feststellen kann. Wen werden Sie da jeweils im Programm präsentieren – und warum?

Man stelle sich einmal vor: Bruckner hat über 2000 Schüler gehabt! Anders als etwa Schönberg war er da gar nicht die Zeit vorhanden, eine konkrete „Schule“ mit einem engsten Kreis auszubilden. Aber Studierende wie der tragisch früh verstorbene Hans Rott oder Mathilde Kralik von Meyrswalden, die wir beide vergangenes Jahr im Programm hatten, zeigen, in welchem Umkreis etwa Mahler groß geworden ist: Ohne Rott wäre er nicht der geworden, als den wir ihn heute kennen. Aus Bruckners Schülern hat sich die Moderne formiert, auch Schönberg hat seine Lehren aus Bruckner gezogen – und noch ein Alfred Schnittke hat seine 2. Symphonie unter dem Eindruck von Bruckner und St. Florian geschrieben, Markus Poschner wird sie dirigieren. Aber es gibt auch zahlreiche Bewunderer Bruckners: unter den bekannten bis großen Komponistennamen etwa Franz Schmidt, dessen Zweite unter Poschner erklingt, bis hin zu Jean Sibelius, interpretiert von Vasili Petrenko und Royal Philharmonic.

Als Vertreter der Unterschätzten, zu Unrecht Vergessenen weisen wir aus Überzeugung auf Heinrich Kaminski und Richard Wetz hin, die knapp nach bzw. noch vor dem Zweiten Weltkrieg gestorben sind: Wir bringen z. B. Kaminskis großartiges Streichquintett sowie von Wetz das Violinkonzert mit der französischen Geigerin Chouchane Siranossian und das Requiem von Wetz mit der Prager Philharmonie unter Eugene Tzigane. Ich glaube, allein diese Einblicke zeigen, dass das Internationale Brucknerfest seine Themen rund um den zentralen Komponisten auf einzigartige Weise beleuchtet. Diese spezifische Mischung aus Bekanntem und Unbekanntem, diese attraktiven Konfrontationen von Werken in diesem Beziehungsreichtum rund um Bruckner im Zentrum, das gibt es sonst nirgends.

Wie beleuchten Sie Bruckner aus dem Blickwinkel der Gegenwart? Auch in anderen künstlerischen Sparten?

Wir haben zum Beispiel den jungen französischen Pianisten und Komponisten Thomas Enhco zu Gast, der weit mehr ist als irgendein Jazzer, nämlich ein umfassender, faszinierender Musiker. Und dann haben wir in der Kunstuniversität Linz, Studierenden und dem Künstler Martin Tardy hervorragende Partner gefunden: Simultan zu Bruckners Symphonien entstehen im öffentlichen Raum in Linz vor den Ohren und Augen des Publikums live aktuelle Kunstwerke: Action Paintings, Skulpturen, Graffiti, Fotografien – und natürlich Tardys Markenzeichen – seine beidhändig und ohne Absetzen der Stifte geschaffenen Zeichnungen. Diese Erzeugnisse werden dann auch ausgestellt.

Die einen haben Bruckner schon seinerzeit als den „Musikanten Gottes“ verehrt, andere scheuen heute eine zu große Nähe zu kindlicher, bei ihm teilweise schon befremdlich anmutender Frömmigkeit . . .

Die spirituelle Kraft von Bruckners Musik ist von jeder Religion unabhängig, das zeigen zum Beispiel enthusiastisch aufgenommene Konzerte in China genauso wie Gespräche mit den bedeutendsten Bruckner-Dirigenten, vom Buddhisten Celibidache bis zu wem auch immer. Das gilt sogar in der besonderen Atmosphäre, die sich in unserem Vier-Kirchen-Abonnement erleben lässt: Konzerte in der Pfarrkirche seines Geburtsorts Ansfelden, im Alten Dom zu Linz, wo er als Organist gewirkt hat, im Neuen Dom, zu dessen Grundsteinlegung und Einweihung der Votivkapelle er Kompositionen geliefert hat – und natürlich in der Stiftsbasilika St. Florian, wo er als Sängerknabe seine musikalische Laufbahn begonnen hat und wo er auch begraben liegt: Das muss man erlebt haben, da fühlt man Spiritualität.

Auf einen Blick

Internationales Brucknerfest 2022
„Visionen – Bruckner und die Moderne“

4. September bis 11. Oktober 2022

Tickets: +43 732 77 52 30
kassa@liva.linz.at
www.brucknerfest.at


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