Lebensmittel: Halbierung der Pestizide durch mehr Chemie?

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PESTIZIDE(c) APA/DPA/ARNE DEDERT (DPA/ARNE DEDERT)
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Die EU will die Menge von Chemie auf dem Acker drastisch reduzieren. Die derzeitigen Methoden könnten genau das Gegenteil bewirken.

Im „Green Deal“ hat sich die Europäische Union ambitionierte Ziele gesteckt: Eine Maßnahme (in der „Farm-to-Fork“-Strategie) zielt darauf ab, dass bis 2030 die Menge von synthetischen Pflanzenschutzmitteln – gemeinhin bekannt unter dem Begriff „Pestizide“ – halbiert werden soll. Als die Kommission diesen Plan verkündete, sollte der Applaus überwiegen, wiewohl im Hintergrund die betreffenden Abteilungen in den Landwirtschaftsministerien der Mitgliedsländer begannen, über Verwässerungen dieses Ziels nachzudenken.

„Im Hintergrund“ deshalb, weil derartige Überlegungen auch auf EU-Ebene heftigem Gegenwind ausgesetzt waren (und sind). So hat sich der EU-Rechnungshof des öfteren mit dem Thema befasst und eindeutige Aussagen publiziert. So meinte Samo Jereb, Mitglied des Europäischen Rechnungshofs im Juli 2020: „Bestäuber spielen eine zentrale Rolle bei der Vermehrung der Pflanzen und bei Ökosystemfunktionen, und ihr Rückgang ist als gravierende Bedrohung für unsere Umwelt, unsere Landwirtschaft und unsere Nahrungsmittelversorgung anzusehen. Die bisherigen EU-Initiativen zum Schutz wilder Bestäuber waren leider so schwach, dass sie keine Früchte trugen."

Bereits im Februar des gleichen Jahres hatte Jereb erklärt: „Bislang war die Europäische Union nicht in der Lage, die Risiken im Zusammenhang mit dem Einsatz von Pestiziden durch Landwirte wesentlich zu verringern und zu kontrollieren. Eine Gelegenheit, dieses Problem angemessen anzugehen, ergab sich im Rahmen der neuen Gemeinsamen Agrarpolitik, die im Jahr 2021 in Kraft tritt, doch diese Gelegenheit wurde leider verpasst."

Österreich will verschieben

Nun also ein neuer Anlauf, mit dem das Halbierungsziel besiegelt werden soll. Vorläufiger Termin dafür: 22. Juni. „Vorläufig“ deshalb, weil es eine Gruppe von Ländern gibt, die diesen Termin zumindest verschieben will. Unter diesen Ländern ist auch Österreich.

Selbst wenn das Ziel in zwei Wochen behandelt und beschlossen wird, ist es immer noch ungewiss, ob sich dies positiv auf die Ökologie auswirkt. Denn noch in Schwebe ist, wie ein Rückgang konkret gemessen wird. Derzeit ist dafür ein „Harmonisierter Risiko-Indikator“ (HRI 1) im Gespräch. Die Messung nach diesem Index ist allerdings so gut wie gar nicht aussagekräftig.

An diesem HRI 1 üben Helmut Burtscher-Schaden, Umweltchemiker bei Global 2000, Martin Dermine von PAN Europe (Pesticide Action Network) und Eric Gall, Policy-Manager von IFOAM Organics Europe, heftige Kritik. Burtscher-Schaden, der auch eine europäische Bürgerinitiative gestartet hat, die von 1,3 Millionen Menschen unterstützt worden ist, meint, dass der Indikakator keinerlei Aussagekraft habe.

Dies hänge mit der Klassifizierung der einzelnen Pflanzenschutzmittel zusammen. Da gibt es zunächst jene, die in der Natur vorkommen und in der biologischen Landwirtschaft erlaubt sind. Von ihnen geht zwar keine Gesundheitsgefahr aus. Auf der anderen Seite gibt es die synthetisch hergestellten, die toxische Wirkungen haben können, zum Beispiel Glyphosat. Von diesen Substanzen sind nur geringe Dosen erlaubt; für sie gibt es – je nach Toxizität – Aufwertungsfaktoren (gegenüber natürlich vorkommenden Substanzen), die allerdings nicht im entferntesten dem höheren Risiko gerecht werden.

Konkretes Beispiel: Das natürlich vorkommende (und umweltverträgliche) Backsoda (Kaliumbicarbonat) darf in einer Menge von bis zu 7500 Gramm pro Hektar ausgebracht werden, während das synthetisch hergestellte (und toxische) Difenoconazol, nur bis 56 Gramm pro Hektar ausgebracht werden darf. Es hat einen Aufwertungsfaktor von 16, schneidet mit einem Wert von 896 aber immer noch (statistisch) besser ab als Backsoda, obwohl es keinen Aufwertungsfaktor hat. Backsoda hätte demnach das achtfache Risiko. Rein rechnerisch erschiene es also günstiger für Ökologie, wenn die natürlich vorkommenden Pflanzenschutzmittel durch synthetisch-toxische ersetzt würden.

Und es gibt noch eine statistischen Kunstgriff, um die Bilanz besser aussehen zu lassen: Wenn die Anwendung eines Pestizids verboten wird, wird rückwirkend der Aufwertungsfaktor auf 64 erhöht – und dadurch erhöht sich statistisch die Menge der Pestizide rückwirkend, der gegenwärtige und künftige Rückgang erscheint größer. Auf dem Acker geändert hat sich jedoch gar nichts.

„Index ist Fehlkonstruktion"

Burtscher-Schaden meint zusammenfassend, dass der HRI-1 eine Fehl-Konstruktion sei und besonders diskriminierend für die biologische Landwirtschaft, in der synthetische Pestizide verboten sind und nur Substanzen eingesetzt werden dürfen, die in der Natur vorkommen – und auch nur als letztes Mittel, wenn andere vorbeugende Maßnahmen gesetzt worden sind. Mit der Methodik des HRI-1 würde jede Umstellung von konventioneller auf ökologische Landwirtschaft als eine Erhöhung der Pestizid-Risiken dargestellt, was ebenso absurd wie falsch ist.

Vor diesem Hintergrund fordert Eric Gall (Ifoam), dass vorläufig ein anderer Indikator angewandt wird – etwa der französische „Nodu“, der natürliche Pflanzenschutzmittel nicht diskriminiert.

Dass die Risikobewertung im Argen liegt, hat bereits im Mai 2020 der EU-Rechnungshof in aller Deutlichkeit veröffentlicht: Da heißt es: „Der Rechnungshof stellte fest, dass die erhobenen und verfügbar gemachten Daten nicht ausreichten, um eine wirksame Überwachung zu ermöglichen. Verfügbare EU‐Statistiken über den Verkauf von Pflanzenschutzmitteln sind so stark aggregiert, dass sie ihren Nutzen verlieren, und die Statistiken über die landwirtschaftliche Verwendung von Pflanzenschutzmitteln waren nicht vergleichbar.“

>> ECA-Special Report 05/2020

>> ECA-Sonderbericht 15/2020

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