Nachruf

Historiker Michael Mitterauer ist tot

Archivbild von Michael Mitterauer aus dem Jahr 2011.
Archivbild von Michael Mitterauer aus dem Jahr 2011.Die Presse / Michaela Bruckberger
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Der Wirtschafts- und Sozialgeschichteforscher Michael Mitterauer ist 85-jährig gestorben. Ihn interessierten auch das Leben und die Lebensbewältigung der kleinen Leute, der Dienstboten und Bauern.

Im Sommersemester 1982 lief am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien ein Seminar über den Wandel von Familien- und Alltagsleben im ländlichen Raum. Professor Michael Mitterauer sprach über ein neu aufgetauchtes Manuskript, die Autobiografie einer Kleinhäuslertochter aus der Buckligen Welt, Maria Gremel. Für uns Studierende war das wie eine Initialzündung. Wir verstanden die Intention des Professors: Hinausgehen! Nicht im Sinne der klassischen peregrinatio academica, von Universität zu Universität, sondern in Bereiche, die dem akademischen Leben weniger vertraut sind, ins Bergbauerndorf, zu den Hebammen und Holzknechten, in Migrantenfamilien, ins Altersheim.

Neue Themen zu entdecken, neue Methoden anzuwenden, das lehrte Mitterauer. Die Geschichtswissenschaft müsse sich in Lehre und Forschung an aktuellen Fragen orientieren, soll für die Gesellschaft relevant sein, soll „Geschichte für uns“ sein, so das Credo dieses Historikers. Ihn interessierte die alltägliche Lebensbewältigung von Menschen: Was bedeutete es, im Österreich des frühen 20. Jahrhunderts ein uneheliches Kind zu sein?

Es war ein revolutionäres Geschichtsbild, abseits von Herrschergestalten und Staatenlenkern, hin zur „kleinen“ Lebenswelt der Menschen und ihres Alltags, hin zur „Oral History“, der Befragung von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen und zur Sammlung persönlicher Aufzeichnungen. Mitterauer begründete die Buchreihe „ . . . damit es nicht verloren geht“, über das Leben von Dienstboten, Bauern, Arbeitern.

Der Doyen der „Kleine Leute-Forschung“ wurde der 1937 geborene Historiker daher manchmal genannt. Er habilitierte sich 1968 an der Universität Wien, ab 1973 war er Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis zu seiner Emeritierung 2003. Er schrieb 20 Bücher zur europäischen Sozial-, Familien- und Wirtschaftsgeschichte, war bis ins hohe Alter aktiv. Die Geschichteseiten in der „Presse“ interessierten ihn sehr, er schrieb nach der Lektüre regelmäßig Mails, wohlwollend oder kritisierend, je nachdem.

„Warum Europa?“

Als Klassiker gilt sein Buch „Warum Europa?“ (2003), in dem er die mittelalterlichen Wurzeln des europäischen Sonderwegs darstellte. Es war die Fähigkeit zu probieren, zu ändern, zu erneuern. Mitterauer hat das an der Agrarwirtschaft, der raschen Verbreitung der Wassermühlen und des eisenbeschlagenen Pfluges, an Handwerk und Technologie gezeigt. Viele seiner Fäden hat er in diesem Werk zusammengeflochten und abseits vom mainstream einen spannenden und ungewöhnlichen Zugang gewählt, wenn er die Revolution in der Landwirtschaft, das Lehenswesen, das Papsttum und die Kreuzzüge analysiert und dabei interkulturelle Vergleiche mit der chinesischen und islamischen Zivilisation zieht.

Am 18. August ist Michael Mitterauer nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 85 Jahren gestorben. Alle, die ihn im Hörsaal erlebt oder seine Bücher gelesen haben, hatten die Möglichkeit, die Faszination für sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Themen von dem begeisterten Historiker zu übernehmen.

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