Der deutsch-iranische Politikanalyst Ali Fathollah-Nejad konstatiert einen „revolutionären Aufstand“ im Iran, der von einer so breiten gesellschaftlichen Basis wie nie getragen wird.
Die Presse: Die iranischen Behörden drosseln das Internet und den Mobilfunk, ausländische Journalisten dürfen nicht einreisen. Es ist schwierig, Einblick ins Land zu bekommen. Was passiert da gerade im Iran?
Ali Fathollah-Nejad: Trotz dieser Situation bekommen wir jeden Tag Videos aus dem Iran zugespielt, die es ermöglichen, ein gesamtes Bild zu zeichnen. Wir sind jetzt in der fünften Woche der Proteste, die man mittlerweile einen revolutionären Aufstand nennen müsste. Trotz des harten Eingreifens des Sicherheitsapparats – auch mit scharfer Munition – erleben wir eine erstaunliche Hartnäckigkeit und Courage vonseiten der Demonstrierenden.
Die Menschen im Iran gehen auf die Straße, seit die 22-jährige Mahsa Amini nach ihrer Verhaftung wegen angeblicher Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften in Polizeigewahrsam starb. Was unterscheidet den Aufstand von früheren Protesten?
Das Novum ist, dass wir es mit einer sehr breiten gesellschaftlichen Basis zu tun haben, an deren vorderster Front sicherlich die Frauen und die jungen Generationen stehen. Darüber hinaus ist allerdings eine große Bandbreite an gesellschaftlichen Gruppen involviert, darunter die Studentenschaft, die Schüler und Schülerinnen, viele Prominente, zunehmend auch Arbeiter, die Streiks organisieren, sogar im sensiblen Bereich der petrochemischen Industrie. Im Gegensatz zu den vorherigen Protesten im Land, die es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gegeben hat, erleben wir diesmal einen schichten- und ethnienübergreifenden Aufstand. Die Protestierenden stellen ganz eindeutig die Systemfrage und rufen nach der Abschaffung der Islamischen Republik.
Aber haben die Proteste Potenzial für einen Umsturz des theokratischen Regimes?