Türkei

Nach dem Erdbeben: „In meiner Geburtsstadt steht das Leben still“

Songül Elmacı in ihrem Geschäft in Wien Favoriten.
Songül Elmacı in ihrem Geschäft in Wien Favoriten. Die Presse/Clemens Fabry
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Die Community in Österreich ist vom Erdbeben in der Türkei schwer getroffen. Sie versucht zu helfen – und hofft auf humanitäre Visa.

Das Glück war ja, dass in dieser Nacht kaum jemand geschlafen habe. Die Schwester wachte zum Stillen des Babys auf, die andere Schwester brauchte die halbe Nacht, um ihre unruhigen Kinder zum Schlafen zu bringen, bis die Unruhe sie selbst überkam. Die Schwägerin schlafe immer schlecht, wenn ihr Mann Nachtschicht habe, so auch in diesen Stunden. Die Mutter, gerade erst eine Lungenoperation hinter sich gebracht, ficht ohnehin ihre eigenen Kämpfe mit dem Schlaf. Nur eine Schwester war in Träumen versunken, als das Erdbeben in den Morgenstunden die Wände spalten, den Putz bröckeln, die Möbel umkippen ließ, der gesamten Familie den Boden unter den Füßen wegriss. Draußen regnete es in Strömen.

In Wien blickte Songül Elmacı erstmals gegen acht Uhr morgens auf ihr Handy, die Flut an Nachrichten hörte nicht auf. In der Provinz Kahramanmaraş habe es ein Erdbeben gegeben, schrieb jemand, Freunde und Bekannte schickten Zeitungsartikel und Bilder, auch aus anderen Provinzen wie Adıyaman, wo ihre Familie lebt. Eine Nachricht kam von ihrer Nichte: „Wir leben, uns geht es gut.“ Doch vergewissern konnte sich Elmacı zunächst nicht. Sie rief alle nacheinander an, Mutter, Schwestern, Brüder, Kinder, niemand hob ab. Die Stunden vergingen, aber sie vergingen wie in Zeitlupe. Dann erst der Anruf von ihrer Mutter. Sie stand mit ihrer gesamten Familie, die in Gehweite voneinander wohnte, auf der Straße, alle in ihren Pyjamas, sie sahen fassungslos auf ihre zerstörten Wohnhäuser, die Mutter versuchte sich und ihre Tochter im fernen Wien zu beruhigen. „Sie müssen mir glauben“, sagt Elmacı, ihre Hände knetend, um Fassung ringend, „die Tränen trocknen erst seit heute.“


Das schwere Erdbeben in der Türkei und Nordysrien in den frühen Morgenstunden des 6. Februar hat die Region, das ganze Land, die Diaspora, ja die gesamte Weltöffentlichkeit im Mark getroffen. Von mehr als 40.000 Toten ist auszugehen, von mehr als 85.000 Verletzten, und das gesamte Ausmaß der Katastrophe wird sich erst allmählich zeigen. Verzweiflung vermischt sich mit der Kritik an der türkischen AKP-Regierung über laxe oder nicht vorhandene Kontrollen der Bauvorschriften. Der Verlust von Verwandten, Freunden, Nachbarschaften, ganzen Straßenzügen und Städten hüllt auch die türkischstämmige Gemeinschaft in Österreich in tiefe Trauer.
So war auch in den vergangenen Wochen die Hilfsbereitschaft groß. Zahlreiche Spendenaktionen wurden gestartet, Komitees gegründet, Ideen für langfristige Hilfen gewälzt. Und es wird eine Hoffnung gehegt: Dass vom Beben betroffene Angehörige unkompliziert Visa erhalten für mehrmonatige Aufenthalte in Österreich.

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