Arbeit

Arbeiten im Krieg: Ein Alltag, in dem die Bomben fallen

Liliia Zubarieva hatte innerhalb einer Stunde nach dem Angriff auf Kiew ihr erstes Arbeitsmeeting.
Liliia Zubarieva hatte innerhalb einer Stunde nach dem Angriff auf Kiew ihr erstes Arbeitsmeeting. Die Presse/Clemens Fabry
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Wie Ukrainerinnen ihrer Arbeit nachgehen, während das Land vom Krieg beherrscht wird. Vom ganz gewöhnlichen Ausnahmezustand.

Der Himmel ist rot. Als Liliia Zubarieva aus dem Fenster schaut, sieht sie die Raketen fliegen. Ihr Sohn war um 4.45 Uhr in ihr Zimmer gestürmt und schrie: „Der Krieg hat begonnen!“ Sie ist geschockt. Schon Monate vor dem 24. Februar 2022 überschlugen sich die Nachrichten über eine drohende Eskalation in der Ukraine. Die Bankangestellte habe an Wirtschaftsblockaden gedacht oder Cyberattacken. Panzer und Bomben hatte sie jedoch nicht erwartet.

An diesem Tag weitete Russland seine Invasion in die Ukraine auf das gesamte Land aus. Nach den ersten Telefonaten wird ihr klar: Kiew wird ringsherum angegriffen. Das Leben von Zubarieva änderte sich radikal. Doch davon wusste sie zu dem Zeitpunkt noch nichts.

Ihr Sohn war verängstigt. Ihre Mutter ebenso. Sie versuchte, den Teenager zu beruhigen. Gab ihm etwas zu tun. „Sonst verlieren die Leute den Verstand“, sagt Zubarieva zur „Presse am Sonntag“. Also drückt sie ihm eine Rolle Klebestreifen in die Hand, um das Fensterglas zu bekleben. Dokumente, Wasser, Essen, warme Kleidung. Er und seine Oma sollten alles Wichtige zusammensuchen.

Währenddessen rief die Kommunikationsleiterin ihren Chef an. Der ist Oleksandr Pysaruk, CEO der Raiffeisen Bank in der Ukraine. Auch er hörte Explosionen. Um 5.45 Uhr saß sie vor dem Laptop im ersten Krisenmeeting der Bank. Um sieben Uhr ging die erste Nachricht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinaus. Eine Stunde später an die Kunden. Diese hatten schon erste Fragen zu Überweisungen, Geldabhebungen und Öffnungszeiten der Filialen. Sie wollten wissen, ob ihr Geld sicher sei. Ist es, versicherte Zubarieva. Kommunikation in Krisen sei unverzichtbar.

Julia Shymanska wurde vom Anruf ihrer Mutter geweckt. „Ich war schon immer eine gute Schläferin“, sagt die 26-Jährige, die in der Finanzbranche arbeitet. „Ich habe so etwas in unserer modernen Welt nicht für möglich gehalten. Und doch passierte es.“ Sie habe begonnen, Freunde und Familie anzurufen, und sei dann in die Arbeit gegangen. Die ersten Tage habe sie mit ihrer Mutter und ihrer schon betagten Katze Schutz in den unterirdischen U-Bahn-Stationen gesucht. „Selbst bei Explosionen und großer Angst fühle ich mich besser, wenn ich meinen Alltag fortführe“, sagt die Kiewerin. „Wenn ich daran zurückdenke, kann ich nicht alles erklären.“

Studien aus der Resilienzforschung am Leibniz-Institut in Mainz zeigen, dass Stabilität während Krisenzeiten und feste Strukturen der psychischen Gesundheit zugutekommen. Eine gewisse Normalität diene als Gegenspieler zum Krieg.

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