Der ökonomische Blick

Ein Blick nach Ungarn zeigt, wie wichtig Mutterschutz für arbeitende Frauen ist

APA/dpa/Julian Stratenschulte
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Neue Erkenntnisse aus Ungarn zeigen, dass Fertilitätsentscheidungen von Frauen stark von der Sicherheit des Arbeitsplatzes abhängen.

Eine wichtige Komponente zur Erreichung der Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt ist der Schutz von Gesundheit und Sicherheit von Müttern rund um die Geburt eines Kindes. Neben dem Mutterschaftsurlaub nach der Geburt gehört dazu der Schutz werdender Mütter während der Schwangerschaft. Laut ILO Übereinkommen 183, das von den meisten europäischen Ländern – darunter auch Österreich und Ungarn –  ratifiziert wurde, ist es dem Arbeitgeber untersagt, das Arbeitsverhältnis einer Frau während ihrer Schwangerschaft und des Mutterschaftsurlaubs sowie eines gewissen Zeitraums nach ihrer Rückkehr zur Arbeit zu beenden. Diese Bestimmung stellt besonders für schwangere Frauen und junge Mütter in instabilen und unsicheren Arbeitsverhältnissen einen wichtigen Schutz dar. Umgekehrt kann eine Schwangerschaft die Mutter eventuell vor wirtschaftlichen Turbulenzen im Betrieb bewahren.

Mehrere Studien untersuchen die Fertilitätsentscheidungen nach einem Arbeitsplatzverlust. Die Richtung des Effektes ist theoretisch unklar. Einerseits kann die Zeit ohne Arbeitsverhältnis für eine Mutterschaftspause genutzt werden. Andererseits ist die Arbeitssuche mit jungen Kindern wenig aussichtsreich und der Wiedereinstieg nach der Mutterschaft bei einem neuen Betrieb schwieriger als eine Rückkehr zum bekannten Arbeitsplatz.

Jede Woche gestaltet die „Nationalökonomische Gesellschaft" (NOeG) in Kooperation mit der "Presse" einen Blog-Beitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften. Dieser Beitrag ist auch Teil des Defacto Blogs der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Central European University (CEU). Die CEU ist seit 2019 in Wien ansässig.

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Deutlicher Geburtenrückgang nach Arbeitsplatzverlust

Um dieser Frage nachzugehen, vergleichen Del Bono, Weber, und Winter-Ebmer (2012) eine Gruppe von Frauen, die ihre Arbeitsplätze durch Firmenschließungen verlieren, mit einer Kontrollgruppe von Frauen, die in ähnlichen Betrieben arbeiten und nicht von einer Schließung betroffen sind. In beiden Gruppen beobachten sie die Anzahl der Geburten in den Jahren nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes. Mithilfe dieses Forschungsdesigns lässt sich die Frage nach dem kontrafaktischen Ergebnis beantworten: Wie viele Geburten hätte es ohne die Betriebsschließung gegeben?  Del Bono, Weber, und Winter-Ebmer dokumentieren einen deutlichen Rückgang an Geburten, um bis zu zehn Prozent, in den Jahren nach dem Arbeitsplatzverlust. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen nimmt über die Zeit nicht ab, was auf einen permanenten Geburtenrückgang unter betroffenen Frauen hindeutet. Weiters nimmt die Anzahl an Geburten von Frauen in Angestelltenverhältnissen und mit höheren Einkommen am stärksten ab. Für diese Frauen ist die berufliche Karriere in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit wichtiger als die Gründung einer Familie.

In einer neuen Studie untersuchen Bardits, Adamecz, Bisztray, Weber und Szabo-Morvai (2023) die Auswirkungen eines bevorstehenden Arbeitsplatzverlustes auf Fertilitätsentscheidungen in Ungarn. Die Zukunftsangst, welche mit Aussicht auf eine Kündigung verbunden ist, kann möglicherweise Familienentscheidungen noch stärker beeinflussen als berechenbare, wenn auch ungünstige wirtschaftliche Umstände. Um diese Erwartungseffekte vollständig zu erfassen, ist es allerdings wichtig, dass neben Geburten auch Informationen über Abtreibungen beobachtbar sind. In Ungarn, wo der Großteil aller Abtreibung innerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems durchgeführt wird, ist dies möglich. Ähnlich wie in der Vorgängerstudie vergleichen die Autorinnen Fertilitätsentscheidungen von Frauen in ungarischen Betrieben die vor einer Schließung oder einer Massenentlassungen stehen mit einer Kontrollgruppe von Frauen in nicht betroffenen Betrieben.

Strategische Familienplanung?

Die Ergebnisse bestätigen, dass die Fertilitätseffekte im Jahr der Kündigung größer sind als nach dem Arbeitsplatzverlust. Interessanterweise zeigt sich auch, dass im Jahr der Schließung oder Massenentlassung die Anzahl der Schwangerschaften in den betroffenen Betrieben ansteigt. Dieses Ergebnis legt nahe, dass Frauen ihre Familienplanung strategisch an die wirtschaftliche Situation anpassen, denn durch das Mutterschutzgesetz sind schwangere Frauen von einer Kündigung ausgenommen. Sie können nach dem Mutterschaftsurlaub wieder auf ihren Arbeitsplatz zurückkehren, falls sich der Betrieb bis dahin von den wirtschaftlichen Problemen erholt hat. Konsequenterweise wird in der Studie auch ein Anstieg an Geburten und ein Rückgang an Abtreibungen in der Gruppe von Frauen, die in Betrieben mit bevorstehender Massenentlassung arbeiten, beobachtet. Allerdings ist diese strategische Familienplanung riskant. Der Kündigungsschutz ist nicht mehr wirksam im extremen Fall einer Firmenschließung. Da der Stress eines bevorstehenden Arbeitsplatzverlustes für schwangere Frauen, die vom Mutterschutz ausgenommen sind, besonders hoch ist, findet die Studie in dieser Gruppe einen Anstieg an Schwangerschaftsabbrüchen.

Bardits et al. 2023
Bardits et al. 2023

Die Abbildung skizziert die geschätzten Effekte von Massenentlassungen  und Betriebsschliessungen auf die Anzahl an Schwangerschaften, Geburten und Abtreibungen pro 1000 Frauen. Die roten Punkte kennzeichnen die Effekte im Jahr der Kündigung und die blauen Punkte die Effekte in den Jahren nach dem Arbeitsplatzverlust. Die Linien entsprechen den 95 Prozent Konfidenzintervallen und messen die Genauigkeit der Schätzergebnisse.

Mutterschutzgesetze wichtig für Chancengleichheit

Die Studienergebnisse aus Ungarn lassen daher folgende Schlüsse zu. Erstens, eine höhere berufliche Unsicherheit hat größere Effekte auf Fertilitätsentscheidungen. Zweitens, Frauen sind bereit, die Familienplanung an die wirtschaftlichen Probleme im Betrieb anzupassen und eine Babypause nach vorne zu verschieben, solange sie dadurch von Massenentlassungen verschont bleiben. Drittens, Abtreibungen könnten verhindert werden, wenn der Schutz schwangerer Frauen auch im Falle einer Firmenschließung aufrechterhalten würde, etwa in der Form großzügigerer Beihilfen. Insgesamt belegt die Studie die Bedeutung von Mutterschutzgesetzen für die Gewährleistung der Chancengleichheit und Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmerinnen.

Die Autorin

Andrea Weber ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Central European University und Konsulentin am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), Wien. Ihre primären Forschungsgebiete sind Arbeitsmarktökonomie und angewandte Mikroökonometrie.

Referenzen

ILO, 2012, Maternity Protection Resource Package: From Aspiration to Reality for All.

Bárdits, Anna, Anna Adamecz, Márta Bisztray,  Andrea Weber, Ágnes Szabó-Morvai, 2023. Precautionary Fertility: Conceptions, Births, and Abortions around Employment Shocks. KRTK KTI working paper.

Del Bono, Emilia, Weber, Andrea, Winter-Ebmer, Rudolf, 2012. Clash of Career and Family: Fertility Decisions After Job Displacement. Journal of the European Economic Association 10, 659-683.

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