Lehrgang

Wiederaufbau der Ukraine: Was aus den Trümmern entstehen wird

Von Stadtentwicklung bis Hochbau, von Recycling bis Infrastruktur: Ein neuer Lehrgang an der Berner Fachhochschule richtet sich an geflüchtete Ukrainerinnen. Hier sollen sie auf den Wiederaufbau vorbereitet werden.

Für Natalie Popyk war es ein Aha-Moment. Es war, als ein Vortragender vorführte, wie er ein Gebäude mit den richtigen technischen Geräten von Außen „scannte“, um anschließend ein 3D-Modell vom Haus zu erstellen. Nur drei Stunden habe die Prozedur gedauert. „Das eröffnet uns neue Möglichkeiten“, sagt Popyk, „dadurch müssen wir nicht in alle Häuser hineingehen, die in Trümmern liegen.“

Mit den Trümmern beschäftigen sich Popyk und ihre Studienkolleginnen intensiv dieser Tage – seit dem russischen Angriffskrieg liegen weite Teile der Ukraine in Schutt und Asche. Und so wird sich mit Blick auf den Wiederaufbau des Landes auch die Frage stellen, wie die Trümmer wieder eingesetzt werden können. Oder wie es Thomas Rohner formuliert: „Wie können wir daraus wieder Werkstoffe machen?“

Natalie Popyk lernt das gerade. Seit wenigen Wochen läuft der erste Lehrgang des neuen Studiums „Wiederaufbau Ukraine“ an der Berner Fachhochschule. Der Kurs richtet sich an in die Schweiz geflüchtete Ukrainerinnen, die bereits einen Bezug zum Bausektor oder der Verwaltung haben; Rohner hat den Lehrgang initiiert. Viele der geflüchteten Frauen seien hoch gebildet, sagt er.

Und so soll ihnen der Kurs helfen, um aktiv am Wiederaufbau teilnehmen zu können. Innerhalb von vier Monaten lernen die Studentinnen, wie Nahrungsmittelversorgung sichergestellt, wie Recycling umgesetzt werden kann. Das Curriculum ist durchaus umfangreich, weitere Schwerpunkte sind digitales Bauen, Verkehrskonzepte, Fernwärme oder Stadtentwicklung. Darüber hinaus gibt es Kurse zu Gleichstellung der Geschlechter und Korruptionsbekämpfung.

Modulare Häuser und Kindergarten aus Holz

Popyk interessiere sich besonders für das Thema Nachhaltigkeit, wie sie erzählt. Bei einem Besuch just in der Schweiz vor mehr als zehn Jahren habe sie erlebt, wie ernst hier Mülltrennung und Recycling genommen werde, „das habe ich dann versucht, in meinem Alltag in der Ukraine umzusetzen“. Die 38-Jährige stammt aus der Nähe von Lwiw, dort war sie in der Stadtverwaltung in hoher Position tätig, hat etwa Kooperationen – zum Beispiel zwischen Universitäten – umgesetzt und um Investments geworben.

Mit dem Beginn der ersten Raketenangriffe flüchtete sie im März vergangenen Jahres gemeinsam mit ihren beiden Kindern in die Schweiz. Während der Ausbildung habe sie immer im Kopf, wie alles auf Lwiw angewendet werden könne; sehr viele Ukrainer aus dem Osten sind in den Westen geflüchtet, sie brauchen langfristig Unterkünfte und Einrichtungen wie Schulen. Daran denke sie, wenn sie im Kurs von „modularen Häusern“ höre. „Wir wissen nicht, wann der Krieg zu Ende ist“, sagt Popyk, „aber wir müssen uns weiterbilden. Selbst, wenn wir im Ausland sitzen, helfen wir mit. Wir knüpfen Kontakte. Wir bleiben mit unserem Land in Verbindung.“

Auf einen Blick

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind 70.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schweiz geflohen (Stand Ende November). Sie erhalten dort den sogenannten Schutzstatus S, der auf ein Jahr befristet ist, jedoch verlängert werden kann. Mit diesem Status erhalten die Geflüchteten eine Arbeitsbewilligung und dürfen ohne Reisebewilligung ins Ausland reisen.

Die Nachfrage nach dem Lehrgang ist groß. Auf 30 Studienplätze haben sich im Jänner innerhalb von zwei Wochen 70 Interessierte beworben. Der zweite Lehrgang ist ebenfalls ausgebucht. Gerade die Schweizer Bauwirtschaft und Planungsindustrie könne mit viel Erfahrung aufwarten, ist Rohner überzeugt – falls sich jemand die Frage stelle, warum just die Schweiz, die nie Wiederaufbau leisten musste, nun Lehrgänge für den Wiederaufbau anbiete. Rohner selbst unterrichtet Holzbau an der FH. „In der Ukraine ist die Ressource Holz da, aber die Ressource Holzbau nicht“, sagt er. So gebe er als konkrete Aufgabenstellung an, einen Kindergarten in Charkiw aus Holz zu planen. Weitere Projekte sind eine Wasseraufbereitungsanlage sowie eine Biogasanlage.

Rohner bringt auch das Beispiel der Bildanalyse. „Wir fliegen mit Drohnen und Flugzeugen über den Wald und analysieren den Bestand. Diese Technik brauchen wir auch in der Ukraine, um zu sehen, wo es zum Beispiel Bombenanschläge gab. Dann heißt es nämlich: Der Boden ist vergiftet.“

6.500 Franken Studiengebühren

Für den Aufbau des Lehrganges habe Rohner zunächst viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, beginnend bei der eigenen FH. Heute sind zehn Hochschulen in der gesamten Schweiz mit ihren jeweiligen Schwerpunkten eingebunden, die Studentinnen wechseln also regelmäßig den Kursort. Mit 6.500 Franken Studiengebühren ist der Lehrgang jedoch keine günstige Angelegenheit. Dafür habe Rohner Patenschaften aufgestellt, also Unternehmen, Stiftungen, Kirchengemeinden oder gar Privatpersonen übernehmen die Gebühren sowie zusätzliche Ausgaben wie etwa die Bahnkarte oder Ausflüge. Auch Laptops und Betreuungsplätze für die Kinder habe Rohner vorab organisiert.

Für die Unternehmen seien diese Patenschaften auch deswegen interessant, weil sie dadurch Kontakte in die Ukraine aufbauen könnten. Darauf hofft auch Popyk: „Wir können eine internationale Expertengruppe aufbauen.“

FH Bern

Der Lehrgang „Wiederaufbau Ukraine“ richtet sich an geflüchtete Ukrainerinnen in der Schweiz. Vier Monate dauert der Kurs, die Absolventinnen erhalten ein Certificate of Advanced Studies (CAS).

Dem Initiator Thomas Rohner zufolge ist das Curriculum frei verfügbar, sodass auch andere Hochschulen - etwa auch in Österreich - diesen Kurs anbieten können.

>>> Link zur Webseite der FH Bern

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