Graz Austrian Fertility Project: Mangelware Kind

Graz Austrian Fertility Project
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Rückläufige Geburtenzahlen sind kein neues Phänomen, sondern werden seit mehr als 100 Jahren beobachtet. Historiker untersuchen nun die Entwicklung im "alten" Österreich.

Österreich stirbt aus! So oder so ähnlich lauten Schlagzeilen, wenn wieder einmal im Mittelpunkt steht, dass die Österreicherinnen und Österreicher zu wenige Kinder bekommen. Das ist jedoch kein Phänomen, das seit der Mitte der 1960er-Jahre, seit der Einführung der Antibabypille, auftritt, sondern schon im ausgehenden 19. Jahrhundert zu beobachten war, weiß der Wirtschaftshistoriker Peter Teibenbacher vom Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz. Gemeinsam mit seinem Team untersucht er im vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten „Graz Austrian Fertility Project“, kurz GAFP, die demografischen Veränderungen in Ost- und Südösterreich sowie in den ehemaligen österreichischen Kronländern Krain, Görz, Istrien und Triest zwischen den Jahren 1869 und 1937.

Während man an Entwicklungsländern beklagt, dass die dortige Bevölkerung zu viele Kinder bekommt, ist bei uns genau das Gegenteil der Fall: 2001 wurde in Österreich die bislang geringste Geburtenzahl von 75.458 registriert. Seitdem pendelt sie einmal aufwärts, dann wieder abwärts ohne erkennbaren Trend; im Jahr 2010 wurden um 1543 mehr Geburten als 2009 verzeichnet. Die Situation ist in verschiedenen Staaten nicht einheitlich, auch die wirtschaftliche Entwicklung und die Politik spielen eine Rolle (siehe Artikel rechts).

Im langjährigen Trend geht die Geburtenzahl jedenfalls zurück, zudem steigt seit vielen Jahren das Alter der Mütter bei der ersten Geburt an (siehe rechts). „Eine Situation, die wir schon vor mehr als hundert Jahren beobachten können“, erklärt Teibenbacher, der mit seinen Kollegen die inder österreichisch-ungarischen Monarchie aufgezeichneten statistischen Bevölkerungsdaten genau unter die Lupe genommen und analysiert hat. „Die Daten zu Geburten, Sterbefällen, Eheschließungen, unehelichen Kindern und vielem mehr wurden während der Monarchie sehr akribisch aufgezeichnet“, sagt Teibenbacher: „Schlechter wird die Datenlage während der Ersten Republik.“


Industrielle Revolution. Eines lässt sich deutlich herauslesen: Ab 1870 sinkt die Fruchtbarkeit. Auf eine verheiratete Frau kommen bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg statt fünf nur mehr drei bis vier Kinder. „Im Fachjargon sprechen wir in Europa ab den 1870er-Jahren vom ,Ersten Demografischen Übergang‘“. Die Industrielle Revolution bringt zu dieser Zeit Neuerungen mit sich, die nicht nur in den Produktionsprozessen ihre Spuren hinterlassen, sondern auch in der Bevölkerungsstruktur. Die gesellschaftlichen Strukturen befinden sich im Umbruch. Bessere Ernährung und medizinische Bedingungen, Reformen im Gesundheitssystem und der Landwirtschaft, dafür erhöhte Kosten für die Ausbildung der Kinder – all das wirkt sich auf die Gesellschaftsstruktur aus. „In ganz Europa ergeben sich zu dieser Zeit wesentliche Veränderungen in den demografischen Verhältnissen“, resümiert Teibenbacher.

Der Prozess vollzog sich in den Städten am schnellsten. Viele Menschen suchten ihr Glück in den neu entstehenden städtischen Industrie-, Gewerbe- und Handelsbetrieben. Doch mit einem Arbeiterlohn konnte man sich nicht so viele Kinder leisten. Kinder wurden zu einer „Kosten-Nutzen-Frage“. Die Wohnungen waren meistens für viele Kinder zu klein, während es auf dem ländlichen Hof immer irgendwo eine Schlafstätte für die Kinder und natürlich auch genügend zu essen gab. Mit etwa sieben Jahren konnten sie schon auf dem Hof mitarbeiten und verdienten damit den elterlichen Aufwand, den diese mit ihnen hatten. Darauf konnte die städtische Bevölkerung nicht mehr hoffen. Außerdem wollte man den Kindern etwas bieten, sie sollten es schließlich besser haben, man wollte sie gut kleiden und bilden, denn die Zeit der Tagelöhner und Hilfsarbeiter war bald vorbei, Fachkräfte wurden gesucht. Daher investierte man lieber in zwei bis drei gut versorgte als in fünf oder gar mehr schlecht versorgte Kinder.

So verwundert es nicht, dass um 1900 in den ländlichen Regionen 25 von 100 Frauen Mütter wurden, während es in den Städten nur 15 waren. Bis 1934 sank die Zahl auf dem Land weiter auf 14 und in den Städten auf durchschnittlich neun. Grundsätzlich ist der Rückgang aber auch in der ärmeren bäuerlichen Bevölkerung zu beobachten, die größeren und reicheren Bauern konnten sich anscheinend noch mehr Kinder leisten oder diese als Arbeitskräfte brauchen.

Wobei beachtet werden muss, dass es auch evidente Unterschiede zwischen den deutschsprachigen und den nicht deutschsprachigen Gebieten gab. Die Fertilität sank vor allem im deutschsprachigen Teil der Habsburgermonarchie, während in den slawischen und romanischen Regionen der Rückgang länger auf sich warten ließ und teilweise erst nach 1945 oder gar erst seit den 1980er-Jahren deutlich zum Tragen kommt. Insbesondere nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme nach 1989 erlebten die betroffenen Länder eine einschneidende Fertilitätskrise.

„Verantwortlich dafür ist ein unterschiedliches Heiratsverhalten zwischen den östlichen und südlichen beziehungsweise den westlichen und nördlichen Gebieten“, erklärt Teibenbacher. Bereits um 1900 und dann in den 1960er-Jahren wurde in der Forschung der kinderreichere Süden und Osten vom gebärunlustigeren Norden und Westen unterschieden. Um 1965 zog der britisch-ungarische Demograf John Hajnal eine imaginäre Trennlinie von St. Petersburg bis Istrien, welche das unterschiedliche Fertilitätsverhalten im 18. und 19. Jahrhundert signalisieren sollte.

In den östlichen und südlichen Regionen erbten nicht nur Erstgeborene, sondern alle Geschwister, was die Familiengründung für alle Kinder erleichterte. In den deutschen Gebieten erbte nur der älteste Sohn, die restlichen Geschwister verließen meistens den Hof und verdingten sich als Knechte oder Mägde. Seit 1868 war ihnen zwar vom Gesetz her eine Heirat nicht mehr verwehrt, aber ohne Grund und Boden war die Chance für eine Hausstandsgründung sehr gering. Eine Folge davon war eine hohe Anzahl von unehelichen Kindern, die jedoch aufgrund der Landflucht als Arbeitskräfte auf den Höfen willkommen waren. Die agrarischen Gebiete in der Obersteiermark und Kärnten waren die Hochburgen für uneheliche Kinder.

Die demografischen Veränderungen, die zu Hajnals Grenzlinie geführt haben, können Teibenbacher und sein Team zwar bestätigen, aber die Grenzlinie wurde von ihnen neu gezogen. Sie verläuft entlang der Südgrenze Kärntens und der Steiermark und entlang der Ostgrenze des Untersuchungsgebietes, also ziemlich genau an der Grenze zwischen dem deutschsprachigen und dem nicht deutschsprachigen Raum. Die Ethnizität oder die Sprache als solche waren aber keine Ursachen für die verschiedene demografische Entwicklung, sondern nur Indikatoren. Neben dem ökonomischen Faktor und dem Faktor der Heiratsmuster spielte offensichtlich auch der Rückgang der Säuglingssterblichkeit eine erhebliche Rolle für den Rückgang der Fertilität.

Zwischen der als „ideal“ angesehenen Kinderzahl und der tatsächlichen herrscht eine Diskrepanz. Laut dem EU-Projekt „Repro“ wird der Kinderwunsch v.a. durch soziale und religiöse Normen sowie durch die Größe der Familie, in der man selbst aufgewachsen ist, bestimmt. Die realisierte Kinderzahl wird durch die Rahmenbedingungen für Mütter bestimmt (etwa Karenzregelungen). Wenn die Situation der nächsten Jahre unsicher ist, wird der Kinderwunsch häufig verschoben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2011)

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