Das ungarische Parlament hob die Immunität von Ferenc Gyurcsány auf. Dem Ex-Premier wird nichts Geringeres zur Last gelegt als Amtsmissbrauch. Der Sozialdemokrat wittert einen Racheakt von Premier Viktor Orbán.
Budapest. Lange ist es her, dass Ferenc Gyurcsány das Rednerpult im ungarischen Parlament zum letzten Mal erklommen hat. Am Montagabend stand er nun wieder dort. Doch statt des Tatendrangs und Feuers von einst waren dem Ex-Premier (2004–2009) diesmal tiefe Anspannung ins Gesicht geschrieben. Mit gutem Grund. Gyurcsány wird von Generalstaatsanwalt Péter Polt nichts Geringeres zur Last gelegt als Amtsmissbrauch. Laut Polt machte er bei einem fragwürdigen Immobiliengeschäft im Jahr 2008 widerrechtlich seinen Einfluss als Regierungschef geltend.
Zum Hintergrund: Eine amerikanisch-deutsch-israelische Investorengruppe um den israelisch-ungarischen Geschäftsmann Joav Blum hatte die Absicht, um rund 1,5 Milliarden Euro ein ungarisches Las Vegas in Sukoró am Ufer des Velence Sees unweit von Budapest zu errichten. Der Haken dabei: Das Territorium, auf dem die Kasinostadt hätte entstehen sollen, ist ein Naturschutzgebiet.
Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft versuchte Gyurcsány dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen, indem er auf das Liegenschaftsamt Einfluss nahm. Ziel wäre es gewesen, das staatliche Grundstück am Velence See gegen eine Immobilie zu tauschen, die von Geschäftsmann Blum angeboten wurde. Nur dass der ungarische Staat dadurch einen Schaden von 1,3 Milliarden Forint erlitten hätte. Der Deal scheiterte letztlich.
Will Orbán Gegner ausschalten?
Für mehr als zwei Drittel der Parlamentsabgeordneten waren diese Beweismittel jedenfalls ausreichend, um die Immunität Gyurcsánys aufzuheben und ihn der Justiz auszuliefern. Die Abstimmung über den Entzug von Gyurcsánys Rechtsschutz als Abgeordneter erfolgte nur wenige Minuten, nachdem dieser seine Parlamentsrede beendet hatte.
In der Rede hatte Gyurcsány alle Vorwürfe der Staatsanwaltschaft als „Lüge“ bezeichnet. Er und seine Regierung hätten sich seinerzeit dafür eingesetzt, eine Investition von mehreren Milliarden Dollar nach Ungarn zu locken. Nur weil er sich für diese Sache damals stark gemacht habe, werde ihm nun Amtsmissbrauch vorgeworfen, sagte Gyurcsány.
Der Ex-Premier nannte Generalstaatsanwalt Polt einen „Handlanger“ von Regierungschef Viktor Orbán und sprach von einer „politischen Abrechnung“. Orbán und seine „autokratische Regierung“ hätten nichts anderes im Sinn, als ihn im Rahmen eines „Schauprozesses“ zu erledigen.
Gyurcsány berief sich dabei auf die jüngsten Veröffentlichungen der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Demnach soll Orbán 2007 vor ausländischen Diplomaten gesagt haben, dass er jeden politischen Gegner sofort auszuschalten gedenke, sollte er die Möglichkeit dafür bekommen. Auch soll Orbán damals geäußert haben, dass er Gyurcsány lieber tot als lebendig sehen wolle.
„Instrumentalisierung der Justiz“
Der Ex-Regierungschef redete den Parlamentsabgeordneten ins Gewissen, nicht an dieser „Schweinerei“ gegen ihn teilzunehmen, vergeblich. Angesichts des drohenden Prozesses scheint sich Gyurcsány jedenfalls keinen Illusionen hinzugeben. In einem Interview mit der linken Zeitung „Népszava” sagte er kürzlich, dass er sich nicht sicher sei, ob er seine Unschuld werde beweisen können, stehe doch die Justiz unter Kuratel der Regierung Orbán.
Rückendeckung bekam Gyurcsány vor allem von seiner Partei, den Sozialisten (MSZP). MSZP-Chef Attila Mesterházy versprach, dass die Sozialisten Gyurcsány mit allen Mitteln verteidigen wollten. Mesterházy betonte, es sei himmelschreiend, dass die Regierungspartei Fidesz im politischen Kampf selbst vor der Instrumentalisierung der Justiz nicht zurückschrecke. Auch sei erschreckend, dass die Staatsanwaltschaft den „politischen Auftrag“ anstandslos erfüllt, so der MSZP-Vorsitzende.
Die Regierung Orbán hat nach ihrem Antritt im Mai des Vorjahres mit lautem Getöse angekündigt, die Vergehen und Korruptionsaffären der linksliberalen Vorgängerregierungen (2002–2010), zumal der Regierung Gyurcsány, aufzudecken und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2011)