Die österreichische Politik ist ein Tinnitus

Machen wir uns nichts vor: Die Parteiendemokratie ist seit einem Vierteljahrhundert am Ende, und dort wird sie mindestens ein weiteres Vierteljahrhundert bleiben.

Nach dem Sommer, hieß es vor dem Sommer, würde neuer Schwung in die österreichische Innenpolitik kommen. Der neue ÖVP-Obmann Michael Spindelegger würde dann genug Zeit gehabt haben, klarere programmatische Vorstellungen zu entwickeln, die beiden Koalitionspartner würden sich in einigen der Streitthemen des Frühjahrs – Bildung, Wehrpflicht – auf eine Vorgangsweise einigen, um die Große Koalition von dem Stillstands-image zu befreien, das immer öfter den Ruf nach etwas Neuem in der österreichischen Politik laut werden lässt.

Es wird Bürger gegeben haben, die das gern geglaubt hätten. Die Mehrheit wird es nicht geglaubt haben und sich jetzt, einmal mehr, darin bestätigt fühlen, dass von dieser Regierung einfach nichts zu erwarten ist. Enttäuschung ist nicht der richtige Begriff für die herrschende politische Stimmung. So wie der Hass die Kehrseite der Liebe ist, ist die Enttäuschung die Kehrseite der Erwartung und der Zorn die Kehrseite der gläubigen Hoffnung. Nichts davon, weder Hass noch Enttäuschung noch Wut, muss diese Regierung fürchten.

Fürchten, sagen besorgte Beobachter, muss man nur, dass das Desinteresse der Bürger an der Innenpolitik eher früher als später gefährliche Ausmaße annehmen wird. Das handelsübliche Gefahrenszenario sieht so aus: Wenn die Angewiderten nicht mehr zur Wahl gehen und die verbliebenen Zornigen ihren Protest mit Stimmen für die populistische Opposition zum Ausdruck bringen, dann droht uns – ja, was eigentlich? Die Machtübernahme der Strache-FPÖ? Und wenn ja, wie würde sie aussehen, die „Machtübernahme“? Abschaffung der Demokratie, ein autoritäres Regime? Außer ein paar Angstlust-Neurotikern, die für ihren „Widerstand“ gegen was auch immer das Phantasma einer Bedrohung brauchen, glaubt niemand, dass paramilitärische H-C-Garden in Österreich Angst und Schrecken verbreiten würden.

Nein, die große österreichische Bedrohung besteht darin, dass, wenn diese Große Koalition des Stillstands endgültig gescheitert ist, eine Neuauflage dieser Großen Koalition stattfindet. Diese Bedrohung ist nicht neu: Jede „Große“ Koalition aus SPÖ und ÖVP, die während des vergangenen Vierteljahrhunderts dieses Land regiert hat, war die Folge des endgültigen Scheiterns der Großen Koalition. Und jedes Mal betrog sich das Land selbst mit der Idee, dass es eben eine Frage der Personen sei. Werner Faymann und Josef Pröll: endlich zwei, die miteinander konnten. Nun ja.

Es ist eben keine Frage der Personen, sondern eine Frage des Systems. Die österreichische Parteiendemokratie ist seit einem Vierteljahrhundert am Ende, und dort wird sie mindestens ein weiteres Vierteljahrhundert bleiben. Die Rekrutierungsmechanismen dieser Parteiendemokratie haben inzwischen den politischen Personalpool ziemlich vollständig zermahlen. Auch wenn die Wahlergebnisse zwischendurch eine rot-grüne Regierung erlauben würden, so wie sie für einige Jahre eine schwarz-blaue erlaubt haben, würde das wenig ändern.

Alle, die jetzt davon reden, dass es so nicht weitergehen könne, dass man etwas Neues wagen müsse in der Politik, am besten eine neue Partei gründen, machen sich etwas vor. Die österreichische Politik ist kein Rückenleiden, das sich durch regelmäßige Bewegung beheben lässt. Sie ist ein Tinnitus, der geht nicht weg. Man kann nur lernen, ihn zu ertragen, und das gelingt nur, wenn man einmal akzeptiert hat, dass er irreversibel ist.


Das Neue liegt nicht im Politischen im herkömmlichen Sinn. Menschen, die bereit und in der Lage sind, über den eigenen Alltag hinaus an der Gestaltung von Gesellschaft teilzunehmen, sollten und werden das außerhalb der politischen Strukturen tun. Erst wenn der Selbstzerstörungsprozess der institutionalisierten Politik in Österreich abgeschlossen ist, wenn nicht einmal mehr der Vizeobmann der Mietervereinigung Liesing und der Subsekretär des ÖAAB Kottingbrunn bereit sind, Regierungsämter zu übernehmen, wird die Zeit struktureller Reformen beginnen.

Bis dahin werden wir uns alle in Geduld und Eigeninitiative üben. Das wird uns umso leichter fallen, als dem Land, in dem wir leben, nicht wirklich viel passieren kann, außer dass alles bleibt, wie es ohnehin schon immer war.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2011)

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