Kittler-Nachruf: Ein kluger Aufschreiber ist gestorben

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Der deutsche Denker Friedrich Kittler ist 68-jährig in Berlin gestorben. Er hinterlässt ein vielseitiges Werk über Medien und Mythen, über Computer und Liebe. Ein postmoderner Denker im guten Sinn.

Nicht nur bei der Linzer Ars Electronica war er jahrelang Haus- und Hofphilosoph. Überall wo originelle Thesen zur Kultur- und Medientheorie gefragt waren, war auch Friedrich Kittler höchst gefragt: ein postmoderner Denker im guten Sinn, ein Mythomane, ein wilder Assoziierer. 1943 in Sachsen geboren, floh er 1958 mit seiner Familie in die Bundesrepublik, dort studierte er Germanistik, Romanistik, Philosophie – und die wortreichen französischen Poststrukturalisten wie Jacques Lacan, Michel Foucault und Jacques Derrida. Dessen Aufsatz „Titre (à préciser)“ übersetzte er ins Deutsche.

Ins Herz der Medientheorie drang er mit seiner Habilitation über „Aufschreibesysteme“. Darunter verstand er technische Einrichtungen für das Speichern von Daten, er unterschied drei Phasen: erstens die Ära des Buchs (von seinem Vorbild Marshall McLuhan zwei Jahrzehnte davor als „Gutenberg-Galaxis“ benannt); zweitens die Ära von Film und Plattenspieler, Radio und Fernsehen; drittens den „totalen Medienverbund auf Digitalbasis“, in dem der Computer als Gefäß für das „absolute Wissen“ das Leitmedium ist.

„Es gibt keine Software“

So weit, so naheliegend. Den Titel „Aufschreibesysteme“ allerdings bezog Kittler von Daniel Paul Schreber, dem deutschen Schriftsteller, der den Psychologen als Opfer der „schwarzen Erziehung“ (durch seinen Vater, den Erfinder des Schrebergartens) und als archetypischer Paranoiker galt. Alle Wissenschaft habe nicht nur Zwangscharakter, sondern auch paranoide Züge, so Kittler, der auch darauf bestand, das Meißeln von Inschriften in Stein mit dem Einbrennen von Strukturen in Silizium-Chips zu vergleichen. „Es gibt keine Software“, sagte er: eine seiner typischen Übertreibungen.

Ähnlich weit holte er Jahre später in „Musik und Mathematik“ aus, einem Werk, in dem er die antike Philosophie neu ordnen wollte und dem Christentum die Zugehörigkeit zu einer Hochkultur absprach. Seine Sympathie galt dem Polytheismus: „An Aphrodite muss man nicht glauben“, sagte er: „Wir alle wissen, dass es sie gibt.“

So stellte Kittler in seinen letzten Jahren die Liebe in den Mittelpunkt seines Denkens: „Die Liebe ist das, was uns in die Welt gesetzt hat“, sagte er Anfang 2011, schon gezeichnet vom Leben, im „Presse“-Interview: „Eigentlich können nur Dichter und Liebende über Liebe sprechen.“ So sprach er über Werther und Lotte, Ödipus und Kalypso. „Man hat nur seine Jugend, von der man erzählen kann“, sagte er schließlich: „Soll ich Ihnen von meinem 67-jährigen, dreifach operierten Körper erzählen? Nein, ich rede lieber über Jimi Hendrix.“ Das konnte er.

Friedrich Kittler, bis zuletzt Lehrer, u.a. an der Berliner Humboldt-Universität, ist am Montag im Alter von 68 Jahren gestorben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2011)

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