Komasaufen – Vollrausch als Identitätsbildung?

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Psychotherapeutin Ulrike Paul rät, das medial geschürte Phänomen des Komasaufens nicht zu dramatisieren. Vielmehr sollte die Funktion ergründet werden, die exzessiver Alkoholkonsum bei Jugendlichen erfüllt.

Wien. Es werden immer mehr und sie werden immer jünger: Kinder und Jugendliche, die sich mit Alkohol ins Delirium trinken. Das sogenannte Komasaufen hat bei den unter 20-Jährigen traurige Konjunktur. Oder nicht? „Nein, nicht in dieser Dimension“, sagt die Innsbrucker Psychotherapeutin Ulrike Paul, die sich seit mehr als 20 Jahren mit Sucht und Abhängigkeit beschäftigt. „Die Medien haben von Anfang an ein Phänomen dramatisiert, das eine solche Qualität nie hatte.“

Diese Dramatisierung stelle in erster Linie die Projektion von Erwachsenenproblemen auf Jugendliche dar und lenke davon ab, dass der Großteil der Alkoholkranken nach wie vor erwachsene Männer sind. Dass junge Buben und Mädchen heute früher damit anfangen, Alkohol zu trinken, Drogen zu nehmen und Sex zu haben, sei durch Studien jedenfalls nicht belegbar. „Im Gegenteil, die Situation hat sich tendenziell sogar verbessert“, betont Paul. Um Heranwachsende effizient gegen Alkohol- und Drogenmissbrauch zu schützen, muss laut der Psychologin die Funktion ergründet werden, die der Drogenkonsum bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in der Pubertät erfüllt. „Das entspricht der Vorgehensweise moderner Prävention, die nicht mehr mit Abschreckung arbeitet“, erklärt Paul. „Man muss nach den Ursachen der Schädigung und Selbstschädigung fragen.“ Zwölf-, 13-jährige Buben und Mädchen, die einigermaßen behütet aufwachsen, dürften gar nicht die Gelegenheit haben, allzu oft exzessiv Alkohol zu trinken. Wenn doch, sei mit einem problematischen Hintergrund zu rechnen.

Riskante Verhaltensweisen

Beim Komasaufen würden Kinder und Jugendliche ein riskantes Verhalten an den Tag legen. Paul: „Man spricht hier von einem ,doing risk‘. Und laut Gender-Gesundheitsforschung erfolgt über das ,doing risk‘ geradezu ein ,doing gender‘.“ Das bedeute, dass junge Buben über riskante Verhaltensweisen, etwa durch das Ausüben gefährlicher Sportarten oder durch Drogenkonsum ihre Geschlechtsidentität herstellen und festigen, also ihre Männlichkeit unter Beweis stellen.

Dieses selbst- und bisweilen auch fremdschädigende Verhalten finde in der Regel innerhalb der eigenen, meist geschlechtshomogenen Gruppe statt. „Die weitreichende Grenzüberschreitung ist dabei Teil des Konzepts. Ich gehe so weit, wie ich kann. Ich traue mich, bewusstlos zu werden und sogar eine Alkoholvergiftung zu riskieren.“ Homosozietät, also die Ausrichtung des Verhaltens an den Normen der Geschlechtsgenossen, sowie Kompetitivität, das Sich-aneinander-Messen, stellen identitätsbildende Elemente der Strukturübung zur Geschlechtlichkeit dar.

Da sich Geschlechtsrollenbilder verändern, steige aber auch bei Mädchen die Bedeutung von riskantem Verhalten für die Selbstvergewisserung und -darstellung. „Will man als Mädchen als cool gelten, sollte man nach Möglichkeit draufgängerisch und furchtlos sein“, beschreibt Paul diese Entwicklung. „Die Aggressions- und Gewaltbereitschaft bei Mädchen ist heute signifikant höher als früher.“ Zudem dürften Mädchen ihre Wut und ihren Zorn heute eher spüren und symbolisieren als früher. „Aber während Buben sie tendenziell nach außen richten und möglicherweise auch andere gefährden, richten sie Mädchen vermehrt nach innen, was beispielsweise zu Essstörungen und Alkoholexzessen führt.“

„Mädchen leiden nicht mehr leise“

Nicht selten sei auch Gewalt und Missbrauch im Spiel. Das Gefühl der Ohnmacht und des geringen Selbstwertes entlade sich schließlich in schädigendem, selbstschädigendem und riskantem Verhalten. „Man droht zu platzen und weiß nicht, wohin mit der Wut“, schildert Paul das Dilemma. „Dorthin, wie sie hingehört, kann ich sie nicht adressieren, weil ich dort abhängig bin, zum Beispiel vom Stiefvater. Also suche ich nach anderen Möglichkeiten. Mädchen leiden nicht mehr nur leise, manchmal leiden sie auch laut.“

Generell sei immer stärker zu beobachten, dass über gesundheitsrelevantes Verhalten Geschlechtsidentitäten hergestellt werden. Hinzu komme, dass sich Jugendliche heute exzessiver ausdrücken müssten. „Die Generationengrenzen verwischen“, sagt Paul. „Sich gegenüber der Elterngeneration abzuheben, gegen sie zu rebellieren ist schwierig.“ Zum einen, weil man niemanden mehr so leicht ärgern könne – vieles werde akzeptiert und toleriert. Und zum anderen, weil sich die Mama gleich kleide und in dieselbe Disco gehe wie man selbst. „Dadurch kommt es zu Vergeschwisterungen, die manche Jugendliche durchaus schätzen, gleichzeitig wird dadurch aber die Abnabelung erschwert.”

Nicht in Panik geraten

Eltern von Teenagern rät Paul, nicht zu dramatisieren. Oft würden sich die Ängste auch aus der eigenen Geschichte speisen. Bürden, die man selbst aus der eigenen Jugend mitbringe, übertrage man auf seine Kinder. „Wenn ich selbst überängstlich bin, alles abwehren muss, was nach Bedrohung aussieht, und mein Kind beenge und ersticke, mache ich die Abnabelung schwer“, warnt Paul. „Mythen zu hinterfragen, Dinge offen anzusprechen und sich über Drogen und ihre Wirkung zu informieren, das lege ich besorgten Eltern nahe.“ Damit wolle sie dieses Problem nicht verharmlosen. „Aber in Panik zu geraten, bringt auch nichts. Denn Panik bedeutet immer die Einengung des Blickfeldes.“

Auf einen Blick

Eigene Ängste und Ursachen. Die Dramatisierung des Komasaufens stellt laut Psychotherapeutin Ulrike Paul in erster Linie die Projektion von Erwachsenenproblemen auf Jugendliche dar und lenkt davon ab, dass der Großteil der Alkoholkranken nach wie vor erwachsene Männer sind. Anstatt Teenager als Alkoholiker von morgen darzustellen, sollte man nach den Ursachen der Selbstschädigung in dieser Dimension fragen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2011)

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