Der inhaftierten Spanierin Estibaliz C. wurde ihr Baby „entrissen“ – gleich nach der Geburt. Wann die mutmaßliche Zweifachmörderin ihr Kind sehen darf, steht noch nicht fest.
Hochkomplex. Hochemotional. Unlösbar. Zuschreibungen wie diese prägen den Fall der Spanierin Estibaliz C. Die 32-Jährige sitzt seit Monaten in U-Haft. Sie soll sowohl ihren Exmann als auch ihren nächsten Partner erschossen haben. Beide Leichen soll sie zersägt und im Keller einzementiert haben. Vorige Woche bekam Estibaliz C. ein Baby (sie war schwanger, als sie in U-Haft kam). Dieses Baby wurde ihr unmittelbar nach einer Kaiserschnittgeburt abgenommen. Regelrecht „vom Leib gerissen“, wie viele nun sagen. Wann die Frau ihren Buben erstmals sehen darf, stand am Montag noch nicht fest. Darf man einer Mutter ihr Kind wegnehmen?
Die formaljuristische Antwort ist einfach: Ja. Etwa das Jugendamt darf das tun, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Aber wie, nach welchen fachlichen Kriterien, lässt sich eine mögliche Gefährdung treffsicher abschätzen? Auf diese Frage gibt es schon keine einfache Antwort mehr. Und selbst wenn man hier eine Lösung parat hat, müssen nun im speziellen Fall zwei tote Männer in die Überlegungen einbezogen werden.
Die für die Bewachung zuständige Haftanstalt wusste nicht, ob die Frau (auch?) ihrem Kind etwas antun würde und ob eine etwaige Gefahr für das Kind mit Dauer des Beisammenseins steigen oder sinken würde. Und ordnete quasi „für alle Fälle“ die Trennung von Mutter und Kind an.
Estibaliz C. ist weit entfernt von einer rechtskräftigen Verurteilung. Aber die Spanierin, die in Wien-Meidling einen kleinen Eissalon führte und vom Boulevard groteskerweise zur großen „Eis-Baronin“ hochstilisiert wird, muss natürlich mit dieser Konsequenz rechnen. Bis dahin gilt die Unschuldsvermutung. Dieses rechtliche Konstrukt, das eigentlich vor Vorverurteilungen aller Art schützen soll, wurde aber, spätestens seit Karl-Heinz Grasser als Fleisch gewordene Unschuldsvermutung durch die Medien zieht, nicht nur entwertet, sondern geradezu pervertiert. Auch Frau C. bekam die Schubumkehr der Unschuldsvermutung zu spüren. Eben in Form der Wegnahme ihres Babys, ihres kleinen Rolando.
Die mutmaßliche Zweifachmörderin werde wohl lange Zeit einsitzen, hatte es wiederum seitens des Wiener Jugendamtes geheißen. Warum also soll sich das Kind erst an die Mutter gewöhnen? Dem Aufschrei von Kinderpsychiatern, wonach ein Kind nach der Geburt unter allen Umständen die Nähe der Mutter brauche, deren Herzschlag hören solle (mittlerweile darf das Baby immerhin den des leiblichen Vaters hören, dies sollte doch auch einiges wert sein), muss aber eine nüchterne Bestätigung folgen: Ja, Estibaliz C. muss wirklich mit einer hohen, sogar lebenslangen Haftstrafe rechnen. Sie streitet, soweit durchsickerte, die Taten an sich (wie immer diese zu qualifizieren sind) gar nicht ab, soll aber angemerkt haben, dass „etwas Böses“ vorübergehend die Kontrolle über sie ergriffen habe.
Im Resultat hat jedenfalls eine „Schuldvermutung“ zur Trennung von Mutter und Kind geführt. Die Unschuldsvermutung wurde gleichsam von einem Baby umgehend außer Kraft gesetzt. Bitter – für Estibaliz C. Doch die eigentliche Frage lautet: Was braucht das Kind? Der Vater kümmert sich jedenfalls um Rolando. Der Mann nimmt seine Verantwortung ernst, während die an der Kindesabnahme beteiligten Stellen, Justiz, Jugendamt und Spital, einander gegenseitig die Schuld am „Entreißen“ des Babys zuweisen.
Es ist wohl nötig, Verantwortlichkeiten für die Zukunft genauer festzuschreiben. Jede Stelle sollte ihre Rolle im Zusammenspiel der Kräfte genau kennen. Dann wäre die Ausgangslage günstiger – wenn die nächste Gefangene ein Kind bekommt.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2012)