Andrej Kortunow, Direktor des regierungsnahen russischen Think Tanks Riac, erklärt, warum Moskau gegenüber Berlin in die Offensive geht. Dem Kreml empfiehlt er eine vollständige Aufklärung der Causa. Sanktionen sieht er skeptisch.
Die Presse: Die Reaktion Berlins auf Nawalnys Vergiftung war sehr hart – ebenso die russische Antwort. Ist der Fall Nawalny ein Wendepunkt im deutsch-russischen Verhältnis?
Andrej Kortunow: Ich würde nicht von einem Wendepunkt sprechen, sondern von einem zusätzlichen Impuls für ihre Verschlechterung. Leider steht es um die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland schon länger schlecht. Wann das genau begonnen hat, ist schwer zu sagen: in der Ukraine-Krise 2014 oder schon früher, als nach dem Putin-Freund Gerhard Schröder Angela Merkel deutsche Kanzlerin wurde. Die Verschlechterung ist auch Folge eines Generationswechsels: Allmählich treten jene deutschen Politiker ab, die Russland zugetan waren. Die neue Generation sieht sich den Russen nicht mehr besonders verpflichtet. Die Wirtschaftsbeziehungen sind heute nicht mehr so bedeutsam wie früher. Auch die Geopolitik stört. Es gibt also einen Vertrauensverlust und die sozio-ökonomische Basis der Beziehungen erodiert. Der Fall Nawalny beschleunigt diese Entwicklung noch. Vielleicht wird die Causa Nord Stream 2 nicht verhindern, aber sie hat Auswirkungen auf die deutsche Politik und Gesellschaft. Das zu beeinflussen wird schwierig – vor allem, wenn Moskau eine harte Position vertritt und Deutschland der Propaganda und Verschwörung bezichtigt.
Warum reagiert das offizielle Moskau überhaupt so aggressiv?
Die Situation ist schwierig für die russische Führung. Es gibt keinen guten Ausweg. Wenn Nawalny tatsächlich mit einer Chemiewaffe in Russland vergiftet wurde, dann gibt es zwei Varianten: Entweder ist der Staat auf irgendeine Weise daran beteiligt oder nicht. War er beteiligt, steht es überhaupt schlecht um Russland. Offiziell sagt Moskau ja, dass es damit nichts zu tun habe. Das würde heißen, dass man nicht vollständig kontrolliert, was hier passiert. Jemand könnte Chemiewaffen in die Hände bekommen und verwendet haben. Das spräche von der Ineffektivität des russischen Staates und seiner Machtvertikale. Man versucht jetzt, einen Ausweg zu finden, zu improvisieren. Der übliche Instinkt Russlands ist, wie schon so oft, in die Offensive zu gehen und jene anzugreifen, die Ansprüche gegenüber Moskau haben. Das ist sicher nicht die beste Tradition. Aber es ist ein bewährtes Verhaltensmodell. Ich bin nicht erstaunt darüber. Dennoch würde ich zu einem anderen Verhalten raten, um den Schaden dieses sehr unangenehmen und tragischen Ereignisses zu begrenzen.