Zur Diskussion über die Schulbewertungs-App: Ein gesundes Maß an Wettbewerb vertragen Lehrer und verträgt die Schule.
Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.
Ein Kind kam auf die Welt und wollte Gutes tun. Das Kind hieß „Lernsieg“, sein Schöpfer Benjamin Hadrigan. Nach wenigen Tagen wurde es erschlagen. Erschlagen von angstgelenkten Hasspostings und psychischen Gewaltattacken jener, die zwar laut nach einer wertschätzenden Feedbackkultur rufen, dabei aber selbst eine Sprache der Geringschätzung und der Diffamierung benützen. Das hier ist aber kein Nachruf auf das Kind, denn ich hoffe auf seine Auferstehung.
Die Diskussion und die Aufregung um die nun wieder vom Netz genommene Lehrer- und Schulbewertungs-App eines geistreichen siebzehnjährigen Schülers aus Wien nehme ich zum Anlass, erneut halblaut nachzudenken über Sinn und Unsinn von Noten, Bewertungen im Schulsystem und den paradoxen Anspruch, Objektivität durch wertende Subjekte zu gewährleisten. Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti definierte die höchste Form menschlicher Intelligenz als die Fähigkeit, ohne Bewertung zu beobachten. Solang man Lehrerinnen und Lehrern jedoch keine Leistungsbeobachtungsverordnung, sondern eine Leistungsbeurteilungsverordnung verordnet, bleibt jene alte Ordnung aufrecht, die uns allen ordentlich wehtut.
Die Aufgabe der Schule
Im berühmten Paragrafen 2 des Österreichischen Schulorganisationsgesetzes definiert der Gesetzgeber die Aufgabe der österreichischen Schule vor allen anderen Dingen als Werteerziehung. Wer Werte authentisch und wertschätzend an andere weitergibt, braucht sich vor Bewertungen dieser anderen nicht zu fürchten. Im vierten Satz dieses umgangssprachlich auch als Zielparagraf bezeichneten Verfassungsgesetzestexts heißt es dann unter anderem: „Sie (gemeint sind die Schüler, Anm.) sollen zu selbstständigem Urteil geführt werden.“
Der Weg zu selbstständigem Urteil führt nun einmal über die Erfahrung mit dem Urteil anderer. Ziel schulischer Notengebung sollte es sein, dem jungen Menschen dabei zu helfen, selbstbestimmt Wertmaßstäbe zu setzen, damit er die Benotung durch andere irgendwann nicht mehr nötig hat, um zu wissen, dass er wertvoll ist.
Der eigenen Selbstbewertung liegt schließlich jener Wert zugrunde, der der heiligste von allen ist: der Selbstwert. Am Selbstwert des wachsenden Menschen zu arbeiten ist das, was ich aus dem Zielparagrafen herauslese.
Die Lehrer- und Schulbewertungs-App von Benjamin Hadrigan mit dem vielversprechenden Namen „Lernsieg“ ist kein Feedbacktool, sondern ein Bewertungstool. Feedback, das sich an die Feedbackregeln hält, bleibt immer eine Initiative dessen, der sich eine Rückmeldung zu seinem Tun wünscht – und zwar von jenen, mit denen er zu tun hat. Ja, es stimmt, die bewertenden User der „Lernsieg“-App sind anonym. Ein Schulzeugnis ist übrigens auch kein Feedbackbogen, und auch aus dem Zeugnis geht leider nicht hervor, wer die einzelnen Beurteilungen vorgenommen hat. Das ist schade. Ich möchte nämlich dokumentiert sehen, wer meinem Kind in Deutsch ein Sehr gut und in Mathe ein Nicht genügend gibt.
„Lernsieg“ ist ein Kind der Digitalisierung, ein Icon auf dem Handydisplay, das eine kleine Rakete darstellt. Eine Rakete, die von links unten nach rechts oben saust. Ein Piktogramm, das zeigen möchte, dass hier etwas aufwärtsgehen soll. Das ist auch die Intention seines Erfinders, eines Schülers, der gelernt hat, sich selbst zu helfen, indem er eine für sich passende Lernstrategie entwickelt hat.
Der App ist sein im Frühjahr erschienenes Buch vorausgegangen mit dem Titel „#Lernsieg. Erfolgreich lernen mit Snapchat, Instagram und WhatsApp“.
Ein hilfreiches Werkzeug
Das darin beschriebene social-media-basierte Lernen ist ein hilfreiches Werkzeug für ganz bestimmte Lerntypen, aber kein Allheilmittel für jeden, der beim Lernenlernen Unterstützung braucht. Es wird Schule nicht neu erfinden, aber es ist eine echte Bereicherung im Werkzeugschrank der Lerntechniken. Es wird nicht das letzte Tool gewesen sein. Aber man sollte dem Ding eine Chance geben und die Updates ganz einfach konstruktiv mitgestalten.
Die App „Lernsieg“ ist auch nicht das Ende der Lehrerpersönlichkeit. Da vertraue ich auf das, was uns der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in seiner 2008 veröffentlichten wegweisenden Studie „Visible Learning“ sichtbar gemacht hat.
Hattie hat uns mit seinen enorm differenzierten Untersuchungen zu Einflussfaktoren und Effektstärken in Bezug auf den Lernerfolg vor Augen geführt, was wirklich etwas bringt im Hinblick auf den Wunsch, ein Lernsieger zu werden. Für ihn stehen die Lehrperson und das Lehrerhandeln im Mittelpunkt der Wirksamkeit von Unterricht: „What teachers do matters.“
Klar definierte Kriterien
Lernen sichtbar zu machen ist letztlich auch das, was Hadrigans Buch zu demonstrieren versucht. Und um Sichtbarkeit geht es auch beim „Lernsieg“ und dem Anspruch, Transparenz zu fördern. Es bietet die Chance, durch mehr Transparenz eine Aufwertung von Schulatmosphäre zu bewirken.
Über die Qualität der Kriterien Unterricht, Fairness, Respekt, Motivationsfähigkeit, Geduld, Vorbereitung, Durchsetzungsfähigkeit, Pünktlichkeit kann man diskutieren. Aber immerhin, die Kriterien sind im Gegensatz zu einer Ziffernnote auf dem Schulzeugnis klar definiert. „Lernsieg“ ist nicht nur ein demokratisches Mittel zum legitimen Protest, es ist vor allem auch eine Plattform zur Anerkennung von Leistungen des Lehrpersonals. Da werden sich mehr Lehrende freuen als frustriert sein.
Das sind aber nicht diejenigen, die jetzt angstgesteuert laut aufschreien und sich auf die Datenschutzgrundverordnung berufen. Die Menschenrechtsartikel 19 (Recht auf freie Meinungsäußerung), 21 (Recht auf Demokratie und Zivilcourage), 26 (Recht auf Bildung) und 30 (Unantastbarkeit dieser Rechte) stehen weit über der Datenschutzgrundverordnung.
Und wer weiß, vielleicht hilft die App ja auch jenen wenigen unglücklichen verängstigten Lehrerinnen und Lehrern dabei, ihre Daseinsberechtigung im Schulbetrieb zu überdenken und den Job noch rechtzeitig zu wechseln, bevor es zu spät ist. Die Gefahr für diese Menschen sind nicht die Schüler mit ihren Handys, sondern schwerwiegende chronische Erkrankungen. Ich glaube durchaus, dass diese App zu mehr Gesundheit im Schulleben beitragen kann.
Schule als Klassengesellschaft
Solange wir in Klassenräumen unterrichten und klassifizieren, bleibt Schule eine Klassengesellschaft. Transparenz ist der Schlüssel, von der schulischen Klassengesellschaft zu einer Schulgemeinschaft von Klasse zu wachsen. Dazu braucht es in erster Linie Offenheit und die Bereitschaft, Neues anzunehmen, auszuprobieren und von seinen Schülern zu lernen. Ein gesundes Maß an Wettbewerb vertragen Lehrer, verträgt die Schule und hebt die Qualität.
„Das Wertvollste in der Musik steht nicht in den Noten.“ Was Gustav Mahler hier beschreibt, das gilt auch für den Unterricht.
E-Mails an:debatte@diepresse.com
Der Autor
Hugo A. Brandner (*1977 in Villach). BRG in Spittal a. d. Drau. Malerhandwerkslehre im elterlichen Betrieb. Studium: Lehramt für Deutsch und Bildnerische Erziehung an der Paris-Lodron-Universität und am Mozarteum Salzburg. Er ist Lehrer für Deutsch und Bildnerische Erziehung und unterrichtet derzeit am Lerchenfeldgymnasium in Klagenfurt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2019)