Bolivien

La Paz: Revolution hinterm Ofen

La Paz, Plaza Pedro Murillo.
La Paz, Plaza Pedro Murillo. (c) imago/robertharding
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Wie eine junge Garde die Gastronomie in Boliviens Hauptstadt verändert: mit Extravaganz und Rückbesinnung auf ihre kulturellen Wurzeln.

Churro! Churro! Churro caliente! Mit gellendem Geschrei preist eine rundliche Bolivianerin längliche gebackene Krapfen mit dem typischen sternförmigen Querschnitt in einer Holzkiste an. Es ist Hauptgeschäftszeit in der Hauptverkehrszeit in La Paz. Die Cholita mit Melonenhut auf dem Kopf drängt sich durch den stockenden Abendverkehr an der Avenida Mariscal Santa Cruz inmitten des politischen Zentrums von Bolivien. In ihrer üppigen Pollera, dem traditionellen Unterkleid, zwängt sie sich zwischen Stoßstangen und Motorhauben. Die bunten Kordeln an ihren langen schwarzen geflochten Zöpfen baumeln hin und her, während sie ihr Backwerk vertreibt.

Gierig greifen die Lenker nach den gezuckerten, mit Zimt bestreuten, frittierten Stangen. Hupen mit ihren öligen Fingern. Schreien mit vollem Mund in das Meer von Brems- und Blinklichtern. Der Vertrieb von Fettreichem hat in einem der ärmsten Länder Lateinamerikas, dem das große gelbe M bereits vor Jahren den Rücken kehrte, Hochkonjunktur.

An der Hauptverkehrsader reiht sich Garküche an Garküche, vor denen Anzugträger auf Plastiksesseln hockend Anticuchos (Rinderherzspieße) und Salteñas (Teigtaschen mit Faschiertem) und Sopa de Arroz (Reissuppe mit Innereien) inmitten des lauten Treibens mit stoischer Ruhe essen.

350 Schritte davon entfernt tut sich im Geschäftszentrum für feine Gaumen zwischen zwei schmucklosen Imbissbuden das Gegenkonzept zum Chaos und Straßenessen in einem unscheinbaren Keller auf: Ali Pacha, ein Nobelrestaurant für Pflanzenesser. Sebastian Quiroga, der tätowierte und mit Auszeichnungen hochdekorierte Besitzer stolperte zufällig durch eine Dokumentation über die Fleischindustrie in die vegane Küche. Gelernt hat der gebürtige Paceño, wie die Einwohner von La Paz genannt werden, in der Londoner Kulinarikschule Le Cordon Bleu, später in der Sterneküche von Relæ in Kopenhagen, bevor er 2016 sein eigenes Restaurant eröffnete.

Universum der Pflanzen

Selten werden Lebensmittel im Andenstaat mit so viel Hingabe verarbeitet und angerichtet wie im Ali Pacha – was aus der indigenen Sprache Aymara übersetzt so viel bedeutet wie Universum der Pflanzen. Die Ideen für seine über allen Maßen gelobte Küche – darunter die Auszeichnung für die beste Küche Südamerikas – hat sich Quiroga aus dem fernen Nordeuropa geholt. Sein Stil, sich auf das Wesentliche zu fokussieren und auf Schnickschnack zu verzichten, zieht sich von der nordländisch angehauchten Einrichtung, über die edle Holzbesteckschatulle bis zum Menü durch. Drei-, Fünf- oder Sieben-Gänge-Menüs werden um zwölf, 18 und 25 Euro angeboten. Eine Essensabfolge auf Papier gibt es nicht, aber Herdenzwang. Jeder Gast am Tisch muss sich für das gleiche Menü entscheiden.

Was auf handgemachten Keramiktellern landet, ist eine Überraschung, manchmal auch ein Mysterium, das die Bedienung oder der Chef persönlich vor jedem Gang entschlüsselt. Serviert wird etwa eine Symbiose aus Roten Rüben mit Schalotten, kredenzt mit Kurkuma-Eis und Süßkartoffel-Eis, dazu die selbst gemachte Kokosbutter auf Sauerteigbrot und zur Nachspeise süßes Quinoa mit Eis vom großblütigen Kakao aus dem Regenwald. Klein sind die Portionen, groß ist die Liebe für das Detail. Alle Zutaten stammen aus Bolivien – dem so vielfältigen Land zwischen Gebirgsketten, Hochebenen und dem Amazonasbecken.

Gastrokarriere für arme Kinder

Zurück zu den Wurzeln. Dieses Credo, dem mittlerweile viele junge Köche in La Paz folgen, hat ein Däne geprägt: Claus Meyer, der Macher des Noma – dem einst weltbesten Restaurant; ausgezeichnet mit zwei Michelin-Sternen. Vor sechs Jahren wurde La Paz zur weiteren Spielwiese, wo Meyer das Gustu etwas außerhalb vom hektischen Stadtzentrum in der Zona Sud eröffnete.

Der Name verpflichtet: „Gustu“ bedeutet Geschmack auf Quechua. Was La Paz' erstes Nobelrestaurant – kühler Chic, bolivianischer Charme und indigene Verspieltheit – zudem so besonders macht, ist das soziale Engagement. Keine Horde von Starköchen, sondern Kinder aus armen Familien werden für die Küche rekrutiert. Das brachte dem betriebsamen Meyer und seinem außerordentlich freundlichen Personal nicht nur Publicity, sondern viel Anerkennung ein.

Ebenso wie die Spezialkreationen, die auf Anfrage in bis zu 17 Gängen aufgetischt werden. Sieben Gänge kosten 63 Euro. Amazonasfisch wird etwa mit aufgespießtem Käse garniert, Schwein trifft auf Hibiskuspüree, die picksüße subtropische Cherimoya wird halb gefroren mit Baiser verziert, und zum Schwammerleis gibt es Schwammerlkaramell – mit Zutaten natürlich ausschließlich aus Bolivien.

Gourmet und Bolivien: Das galt lang als ein Widerspruch. Im 1,1 Millionen Kilometer großen Binnenland – 13-mal so groß wie Österreich – war die hohe Kunst des Kochens nicht präsent. Dabei ist der Andenstaat reich, reich an einer großen Artenvielfalt und Kulturgeschichte, die von Tiwanakus über die Inkas bis zur Kolonialzeit unter den Spaniern reicht.

Dessen war man sich in Bolivien, das seinen Verwaltungsmittelpunkt in Sucre hat, aber von La Paz aus politisch regiert wird, früher nicht bewusst. Stolz und Wertschätzung, auch gegenüber der indigenen Bevölkerung, waren gering ausgeprägt. Das ändert sich zusehends.

So wie die Cholitas, die Frauen mit Melonenhut, schwarzen Zöpfen und bunten, opulenten Wickelkleidern mit bis zu zehn Lagen, ihre Kultur zur Schau tragen, präsentiert eine junge Garde bolivianischer Köche ihre Ideen. Sie setzten sich mehr und mehr mit ihren Wurzeln und der Herkunft der Essenszutaten auseinander.

Lange Schlange für die Mittagsshow

Wie Juan Pablo Reyes Aguilar, Diego Rodas und Alexandra Meleá. Das Trio öffnete vor einem Jahr eine Seitenstraße von der Touristenmeile Sagarnaga entfernt das Popular Cocina Bolivia. Von montags bis samstags zieht sich ab halb zwölf mittags eine nicht endende Menschenschlange die Treppe hinauf. 60 Personen – nicht mehr, nicht weniger – werden zu Teil eins der Mittagsshow ins rustikal schlicht eingerichtete Einzimmerrestaurant eingelassen. Wer keinen Platz bekommt, kann sich für Runde zwei um 14 Uhr eintragen. Fröhlich, etwas aufgeregt und sehr motiviert ist das Personal, gleichermaßen die Gäste, für die das Konzept neu ist.

60 Bolivianos, etwa 7,70 Euro, kostet das Menü, zwei gibt es zur Auswahl. Sie werden mit großer Präzision angerichtet und schnellfüßig serviert. Dazu gibt es stets eine kurze Biografie. Über den panierten Pansen zur Vorspeise, über die Ripperln im Paprikamantel zum Hauptgang und über das selbst gemachte Mürbteiggebäck zum Dessert. Alfajor sagt der Kellner dazu. Solche bieten auch die geschäftstüchtigen Straßenverkäuferinnen am Plaza del Estudiante auf ihren übervollen Karren an. Wieder im Endlos-Refrain und wieder in der schrillen Tonlage. Alfajor! Alfajor! Alfajor! Ihre Nachbarin tut es ihr gleich: Api! Api! Api caliente!

Hastig schenken die Cholitas mit den Goldzähnen und dem schüchternen Lächeln das heiße und zuckerreiche andinische Mais-Zimt-Gemisch in Plastikbechern aus. Am meisten davon am Morgen, wenn der Verkehr auf 3600 Metern im Altiplano wieder zum Erliegen kommt, die Fahrer in den Tag und in ihre Windschutzscheibe schreien und das Chaos in La Paz von vorn beginnt.

ESSEN IN LA PAZ

Zur Avantgarde gehört auch Miguel Fernandez mit dem Mi Chola im Künstlerviertel Sopocachi, der auch einen Piranha mit offenem Maul auf den Teller setzt und zum Aperitif Singani im Medizinflascherl reicht. Bei Veganern und/oder Reisenden ist das Café Vida an der Touristenmeile Sagarnaga für feine, günstige Mittagsmenüs und Smoothies beliebt. Einige Meter weiter hat sich Elin aus Schweden vor einigen Jahren niedergelassen und gründete die Backpacker-Institution Cafe del Mundo. Ein bisserl Heimat mit Frittatensuppe und Schnitzel serviert Paul Stach aus Weiz in seinem 1992 eröffneten Vienna, dazu gibt's Piano-Musik live.

  • Ali Pacha, Calle Colón N 1306, T.: +591 2 2202366
  • Gustu, Avenida Costanera 10, T.: +591 221 17491
  • Popular Cocina Boliviana, Calle Murillo, T.: +591 656 13649

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2019)

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