Als Kreisky seinen ersten Wahlsieg feierte, war ich Schüler.
Bruno-Kreisky-Preis

Robert Menasse: Es kann keine Demokratie von Idioten geben

Sind wir stolz? Sind wir bereit? Warum sage ich „wir“? Ich bin kein Parteisprecher. Aber ich kann Ihnen sagen, warum ich als freier Geist hier und jetzt „wir“ sage: weil ich ein Herz habe. Und weil ich spüre, dass es hier wieder stärker schlägt. 

Am 6. Mai 1979 besuchten zwei Benediktiner ein Schlachtfeld. Dieses Schlachtfeld befindet sich im Marchfeld, zwischen Dürnkrut und Jedenspeigen – wo es noch heute manchmal vorkommt, dass Bauern beim Pflügen dieses guten Landes mit hellem Wiesengrün und Saatengold, von Lein und Safran gelb und blau gestickt, historische Gebeine und Schädel zutage fördern.

Die beiden Benediktiner waren die damaligen Philosophiestudenten Konrad Paul Liessmann und ich, Benediktiner genannt als Schüler von Universitätsprofessor Michael Benedikt, Experte für die Kritik der Urteilskraft, dessen Begriff von der Freiheit des Denkens tatsächlich eine Freiheit des Denkens in den Jahren unserer universitären Bildung ermöglicht und gefördert hat, die heutige Studenten und Studentinnen eifersüchtig machen muss.

Liessmann und ich hatten beschlossen, an diesem milden, schäfchenwolkigen Sonntag einen Ausflug zum historischen Schlachtfeld und der nunmehrigen Weinkulturregion Jedenspeigen zu machen, um den Kofferraum meines Skoda, den meine Großmutter zwei Jahre davor bei der Tombola des „Volksstimme“-Fests gewonnen hatte (sie besaß keinen Führerschein – so ist das Auto an mich gefallen), um diesen Skoda also mit Wein zu füllen, um Vorrat für die nächtelangen Hegel- und Kant-, Benjamin-, Adorno- und ja: Marx- und Trotzki-Diskussionen der nächsten Wochen zu haben. Bekanntlich war der Geist der Doppelmonarchie zumindest in der Doppleranarchie der Kunst- und Philosophie-Zirkel der Siebzigerjahre einigermaßen aufgehoben. Jedenfalls: Da saßen zwei Benediktiner, zum solidarischen Leidwesen Professor Benedikts zwei linksextreme Studenten, an einem grob gezimmerten Holztisch im Sonnenuntergang vor einem Weinkeller, mit Blick auf das Schlachtfeld, auf dem Rudolf I. den König Ottokar vernichtend geschlagen hatte, was nicht nur die Grundlage für 640 Jahre österreichischer Habsburger-Geschichte schuf, sondern auch noch die geistigen Grundlagen der Zweiten Republik prägte. Schließlich wurde im Jahr 1955 das Burgtheater eröffnet und damit indirekt auch die Wiedererlangung der österreichischen Souveränität mit Grillparzers „König Ottokar“ begangen.

Wir waren keine Kreisky-Ministranten

Der Weinbauer stellte zusammen mit einer neuen Flasche Wein ein Kofferradio auf den Tisch, sagte: „Jetzt kommt gleich der Bruckmann!“, und Professor Bruckmann, der damalige „Hochrechner der Nation“, verkündete, dass Bruno Kreisky an diesem Wahlsonntag die absolute Mehrheit nicht nur verteidigen, sondern gar ausbauen konnte. Und die beiden Benediktiner brachen in Jubel aus – ja! Sie jubelten!

Wir haben Kreisky gewählt, aber waren wahrlich keine Kreisky-Ministranten. Über die Auslassungen von Thomas Bernhard, dieses in keiner Zeile analytischen, in all seinen Büchern insgesamt aber exemplarisch österreichneurotischen Dichters, der Bruno Kreisky als „Alpen-Tito“ und „Höhensonnenkönig“ bezeichnet hatte, lachten wir gewissermaßen links außen (nebenbei gesagt: auch dies ein zutiefst österreichisches Missverständnis, vergleichbar etwa mit der Groteske, dass heute ausgerechnet „Presse“-Abonnenten gern Karl Kraus zitieren). Aber wir kritisierten Kreisky nicht nur noch marxistisch, sondern auch bereits ökologisch: Bei der Zwentendorf-Abstimmung hatten wir gegen das Atomkraftwerk gestimmt. Und Kreiskys Auslassungen gegen Simon Wiesenthal, sein Versuch, nicht nur diesen anzuschütten, sondern in einer Liaison mit einem SS-Mann „Gräben zuzuschütten“, wo Gräber waren, erschien uns auch nicht gerade als eine Ruhmestat des Kanzlers. Dennoch: Wir jubelten – und dann geschah etwas, das heute wohl kaum noch vorstellbar ist: Der Bauer umarmte, aufgrund dieses überwältigenden Wahlsiegs eines Sozialdemokraten, glücklich die beiden linksextremen Studenten. Da kam auch noch der Dorfgendarm vorbei, hörte die Nachricht und ballte die Faust, nicht unbedingt wie ein Sozialist, eher wie ein triumphierender Sportler, und da saßen dann Bauer und Bäuerin, der Gendarm, der Adornit und der Trotzkist vor einem Weinkeller, blickten auf die nunmehrige Idylle eines für Österreich höchst bedeutsamen historischen Schlachtfelds, aßen und tranken und feierten Kreiskys Wahlsieg, im Abendrot, das allerdings metaphorisch für uns die Fortsetzung des österreichischen Morgenrots war.

»Denn dies wollte ich wahrlich nie: plötzlich einer zu sein, der nostalgisch seine Jugendjahre verklärt oder Anekdoten erzählt.«

Robert Menasse

Diese Geschichte ist mir augenblicklich wieder eingefallen, als ich erfuhr, dass mir der Kreisky-Preis zugesprochen wurde. Ich habe sie früher gern erzählt, als Sinnbild für die damalige Stimmung und die verblüffend große gemeinsame Schnittmenge politischer Lager. Aber dann lange nicht mehr. Denn dies wollte ich wahrlich nie: plötzlich einer zu sein, der nostalgisch seine Jugendjahre verklärt, oder aber, wenn es nichts zu verklären gibt, mit dem umwölkten Ernst des „Zeitzeugen“ Anekdoten erzählt. Für die Nostalgie spricht zwar, dass sehr vieles damals besser wurde, als es davor gewesen war, gegen die Nostalgie spricht unter anderem aber, dass heute zwar vieles besser sein könnte, wir aber vor Herausforderungen stehen, die wir uns damals nicht im Traum, korrekt gesagt: nicht im Albtraum hätten vorstellen können.

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