175 Jahre „Die Presse“

Ivan Krastev: „Putin denkt, die Zeit arbeitet für ihn“

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev kennt Putin persönlich.
Der bulgarische Politologe Ivan Krastev kennt Putin persönlich. Stefan Fürtbauer/picturedesk.com
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Der Starpolitologe über die mysteriöse Prigoschin-Rebellion, Putins Angst vor einem populären General, Friedenschancen im Ukraine-Krieg und die journalistische Tugend des Fragens.

Die Presse: Sie reisen kreuz und quer durch die Welt, haben direkten Zugang zu Staats- und Regierungschefs wie Emmanuel Macron oder Olaf Scholz, waren zuletzt in Kiew, London und Berlin. Haben Sie zu Beginn Ihrer Karriere je daran gedacht, Journalist statt Politologe zu werden?

Ivan Krastev: Als Journalist sollte man auch in sozialen Medien unterwegs sein. Ich könnte nicht überleben in einer Welt, in der man von so vielen Informationen bombardiert wird. In gewisser Weise sind wir aber alle Journalisten. Doch ich betreibe lieber einen faulen Journalismus, der nicht auf Schlagzeilen abzielt.

Woher beziehen Sie Ihre Informationen? Was sind vertrauenswürdige Quellen für Sie?

Für mich gilt: Mit Leuten zu reden ist durch nichts zu ersetzen. Danach kann man natürlich auch falschliegen. Aber man liegt wenigstens unabhängig falsch. Ich möchte nicht wegen der Blase falschliegen, in der ich mich bewege. Wie jeder andere lese und verfolge auch ich die Nachrichten. Aber ich entscheide, was ich nachprüfen will und was nicht.

Eine interessante Parallele: Gerade in Zeiten der Desinformation und Manipulation muss es auch das Rezept des Journalismus sein, möglichst direkt an die Quellen zu gehen.

Dazu fällt mir eine Geschichte ein. Eines Tages sagte Gary Becker, der berühmte Nobelpreisträger der Chicago School, zu einem Freund von mir: „Ich habe eine großartige Studie darüber geschrieben, warum die Leute vor den Restaurants in Chicago Schlange stehen.“ Mein Freund antwortete: „Gary, hast du jemals mit einer Person in der Schlange gesprochen?“ Becker, der Ökonom, erwiderte: „Nein, aber ich habe ein absolut brillantes Modell.“

Wer nicht fragt, bleibt Theoretiker und erfährt nichts Neues.

Wir sollten keine Angst haben, Fragen zu stellen. Es geht nicht nur darum, was die Leute antworten, sondern auch darum, wie sie es tun. Und es ist auch interessant, was sie nicht sagen wollen. Wenn ich russische Freunde frage, was sie über den Prigoschin-Aufstand wissen, werden sie vielleicht nicht direkt antworten. Ich werde aber trotzdem etwas erfahren.

Dann lassen Sie uns zum Thema kommen. Glauben Sie, dass Russlands Präsident, Wladimir Putin, durch die Revolte des Söldnerführers Prigoschin geschwächt ist?

Er kann nach diesem Aufstand zumindest nicht mehr erzählen, dass alles normal läuft und der Krieg weit weg ist. Die Prigoschin-Rebellion ist ein Mysterium und trägt mittelalterliche Züge. Das war kein Putsch, um Präsident Wladimir Putin zu stürzen. Jewgenij Prigoschin wollte erreichen, dass Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Walerij Gerassimow entlassen werden, dass die Wagner-Gruppe als Spezialeinheit erhalten bleibt und zusätzliches Geld erhält. Sein Marsch auf Moskau war seine Art, Putin um ein Treffen zu bitten. Die Ironie lag am Ende darin, dass Prigoschin zwar mit einem Präsidenten sprechen konnte, aber nicht mit Putin, sondern mit Alexander Lukaschenko, dem Staatschef von Belarus. Putin wollte nicht mit Prigoschin reden. Lukaschenko war der einzig verfügbare Präsident.

Warum ließ Putin den Marsch Prigoschins nicht militärisch stoppen?

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