Iraks Angst vor dem Gespenst Bürgerkrieg

Iraks Angst Gespenst Buergerkrieg
Iraks Angst Gespenst Buergerkrieg(c) AP (ANDREW PARSONS/PA)
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Die Kämpfe zwischen sunnitischen und schiitischen Milizen haben in Bagdad tiefe Wunden hinterlassen. Neue Spannungen wecken die Sorge vor der Rückkehr der dunklen Zeiten.

Sie kamen kurz vor Sonnenuntergang, in drei Geländewagen mit schweren Maschinengewehren. Maskierte Männer mit Kalaschnikows stiegen aus den Fahrzeugen und drangen in Abu Hammads Haus ein. „Sie bedrohten uns mit ihren Waffen und fragten mich: Warum seid ihr noch immer hier?“ Abu Hammad versucht, ruhig und gefasst zu erzählen, was sich damals, am 10. Oktober 2006, zugetragen hat. Doch die Augen des 43-jährigen Irakers verraten, wie sehr die schrecklichen Ereignisse noch immer an seiner Seele nagen. Die Männer packten Abu Hammads 17-jährigen Sohn und nahmen ihn mit. „Sie sagten: Du bekommst ihn wieder, wenn ihr von hier verschwunden seid.“ Doch die Entführer hielten nicht Wort. Nur 300 Meter vom Haus entfernt erschossen sie den 17-Jährigen.

Massenvertreibungen. Irakische Soldaten rückten an, bewachten über Nacht das Haus der Familie. „Nächsten Tag kamen die Amerikaner mit ihren Militärfahrzeugen. Sie halfen uns, alles wegzubringen, Möbel, Kleidung, unseren persönlichen Besitz“, berichtet Abu Hammad und atmet tief durch. Es scheint, als könne er noch immer nicht begreifen, was damals geschehen ist: „Wir sind eine schiitische Familie, unsere Nachbarn waren Sunniten. Aber das spielte für uns doch früher nie eine Rolle.“ Für al-Qaida und andere Extremisten spielte es aber eine Rolle. In ihrer verqueren Auslegung des sunnitischen Islam ist kein Platz für alle anderen – auch nicht für Muslime, die der schiitischen Richtung des Islam angehören. Damit war auch für den Schiiten Abu Hammad und seine Familie kein Platz mehr in al-Latifia, einem Vorort im Süden der irakischen Hauptstadt Bagdad, in dem al-Qaida und andere Milizen ihr Unwesen trieben.

Das Schicksal des 43-Jährigen ist kein Einzelfall. Die blutigen Jahre des Bürgerkriegs haben aus Bagdad eine andere Stadt gemacht: Viertel, in denen früher Schiiten neben Sunniten wohnten, wurden von Extremisten mit Gewalt „gesäubert“. Zehntausende Schiiten wurden aus Gegenden vertrieben, die jetzt rein sunnitisch sind, zehntausende Sunniten aus Gebieten, in denen Schiiten dominieren. Heute leben in Bagdad 370.000 intern Vertriebene. Der Großteil der christlichen Minderheit floh vor dem Terror ins Ausland oder die Kurdenregion im Nordirak (siehe nebenstehenden Artikel).

Mit ihrem Einmarsch vor zehn Jahren vertrieben die USA Saddam Hussein – einen grausamen Diktator, der jeden Widerstand gegen seine totalitäre Herrschaft mit massiver Gewalt gebrochen, ja sogar Giftgasangriffe auf die kurdische Zivilbevölkerung befohlen hatte. Den USA gelang es aber nicht, das Machtvakuum zu füllen, das durch den Sturz des Despoten entstand. Das nützten verschiedenste Gruppen, um gegen die Amerikaner zu kämpfen, aber auch gegeneinander um die Neuverteilung des Einflusses im Land. Die tonangebende Kraft im neuen Irak waren die Schiiten, die Mehrheit der Bevölkerung. Die Sunniten, aus deren Mitte Saddam Hussein stammte, fühlten sich nun in die Rolle der Minderheit gedrängt. Am 22. Februar 2006 verübte al-Qaida in der Stadt Samarra einen Sprengstoffanschlag auf die Goldene Moschee, die den al-Askari-Schrein in sich birgt – eines der wichtigsten Heiligtümer der Schiiten. Schiitische Todesschwadronen starteten Racheakte an Sunniten. Das Tor zum Bürgerkrieg wurde aufgestoßen.

In den vergangenen Jahren beruhigte sich die Lage. Doch nun geht in Bagdad erneut die Angst vor dem Gespenst Bürgerkrieg um. In Anbar und anderen vor allem von Sunniten bewohnten Gebieten protestieren Tausende gegen die schiitisch dominierte Regierung des Premiers Nouri al-Maliki. Terrorgruppen wie al-Qaida versuchen, mit einer neuen Attentatswelle gegen Schiiten Öl ins Feuer zu gießen, um die Flammen einer Auseinandersetzung von Schiiten gegen Sunniten wieder hoch auflodern zu lassen.

Mit Sonnenschirmen zum Gebet.
Auch andere Geister der Vergangenheit tauchen wieder – in der Hoffnung, von den Schwierigkeiten des Premierministers profitieren zu können. Einer davon ist der schiitische Prediger Moqtada as-Sadr, der Herr über die Mahdi-Armee – einer der berüchtigsten Schiiten-Milizen im Irak.Er hat im Kampf um die Macht einst Iraks Regierung und den Amerikanern Kopfzerbrechen bereitet. Sein Machtzentrum liegt in Sadr City, einem verarmten Viertel im Nordosten Bagdads.

An der Zufahrt nach Sadr City haben irakische Soldaten mit sandgrauen Humvee-Geländefahrzeugen Stellung bezogen, überprüfen jeden, der in das Viertel will. Kurz danach die nächsten Kontrollposten: Männer in Zivil – Getreue as-Sadrs – verlangen Ausweise, lassen den Kofferraum der Autos öffnen. An den Hauswänden prangen bunte Poster, die Imam Ali zeigen, den Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Für die Schiiten sind Imam Ali und sein Sohn Hussain die ersten rechtmäßigen Nachfolger des Propheten. Die Sunniten sehen das anders. Der Nachfolgestreit nach Mohammeds Tod gilt als Ursprung der Trennung von Schiiten und Sunniten, der beiden größten Richtungen im Islam.

Auf dem löchrigen Asphalt spielen Buben in ausgewaschenen T-Shirts Fußball. „Messi“ und „Unicef“ ist auf einem der Leiberln gerade noch zu erkennen. Die Straßen sind voll. Alte Männer mit Sonnenschirmen und junge Burschen, die grüne Flaggen mit dem Konterfei Moqtada as-Sadrs tragen, eilen zum Freitagsgebet. Dabei wird es nicht nur um religiöse Belange gehen. Dabei werden die Einwohner von Sadr City auch die neuesten Direktiven ihres politischen Führers erhalten.

Schließlich verneigen sich Tausende zum Gebet. Danach fordert der Scheich in seiner Ansprache unbedingten Gehorsam gegenüber Moqtada al-Sadr: „Ihr müsst seine Gesetze befolgen“, tönt es aus dem Lautsprecher. „Wenn ich nicht die Befehle des Anführers ausführe, wie kann ich die Befehle des Propheten ausführen?“ Doch die Gläubigen bekommen auch anderes zu hören: „Wir sind Schiiten und Muslime. Aber wir müssen auch die anderen Religionen respektieren.“

Es gebe kein grundsätzliches Problem mit den Sunniten beteuert auch Scheich Ali Atwany, der stellvertretende Chef von as-Sadrs Büro in Bagdad. Der Scheich kritisiert den schiitischen Premier al-Maliki, gegen den Schiitenprediger as-Sadr regelmäßig Demonstranten aufmarschieren lässt. As-Sadr hat sich zunächst sogar mit den Protesten der Sunniten in Anbar solidarisch erklärt. Doch mittlerweile hört sich das anders an. „Zuerst hatten die Demonstranten rationale Forderungen, aber nun haben sie den Weg in Richtung Bürgerkrieg eingeschlagen“, sagt as-Sadrs Mitstreiter Ali Atwany. „Sie gehen jetzt mit al-Qaida-Fahnen auf die Straße.“ Es ist derselbe Vorwurf, der von fast allen schiitischen Fraktionen kommt, auch vom Block „Hoher Islamischer Rat im Irak“, der die Regierung unterstützt (siehe Interview): Die Demonstranten in Anbar sind von al-Qaida und Saddam-Loyalisten unterwandert.

Abgeriegelte Sunnitenviertel. Der sunnitische Abgeordnete Khalid al-Alwani weist das erbost zurück: „Die Menschen protestieren, weil sie wollen, dass die Regierung ihnen ihre Rechte zugesteht.“ Sunniten seien in den Ministerien und den Sicherheitskräften unterrepräsentiert, klagt der Abgeordnete. Und sie würden in weitaus größerem Ausmaß als die Schiiten Opfer der Antiterrorgesetze. Tausende sitzen im Gefängnis. Iraks Sicherheitskräfte haben sunnitische Stadtviertel Bagdads wie Amrija abgeriegelt – lassen kaum jemanden hinein oder hinaus. Amrija gilt als Rebellenhochburg. Doch unter den Sicherheitsmaßnahmen leidet vor allem die einfache Bevölkerung.

„Natürlich leiden immer die normalen Leute – egal, ob Sunniten oder Schiiten“, sagt Ali Hameed. Der junge Sunnit lebt im Bagdader Viertel Gazalia, das zwischen Sunniten und Schiiten aufgeteilt ist. „2006 wuchsen hier die Spannungen. Bevor jemand unser Haus niederbrannte, zogen wir weg.“ Ali Hameed glaubt nicht an eine Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten im Irak: „Es waren die Politiker und ignorante Menschen, die den Konflikt angefacht haben.“

„Ich hasse die Sunniten nicht.“ Auch der Schiit Abu Hammad sieht das ähnlich. Auch er will von Feindschaft nichts wissen – obwohl Extremisten in sein Haus eindrangen und seinen Sohn ermordet haben. „Al-Qaida hat mir meinen Sohn genommen, nicht die Sunniten. Einige von ihnen haben vielleicht mit den Mördern zusammengearbeitet: Aber das ist nur ein Finger einer ganzen Hand.“ Der 43-jährige Schiit macht eine kurze Pause. Und dann bekräftigt er: „Ich hasse die Sunniten nicht.“ Sein Haus in al-Latifia wurde gesprengt. Sein Grundstück, auf dem er einst Datteln gepflanzt hat, gibt es aber noch. „Ich möchte zurück nach al-Latifia“, sagt er. Doch noch ist es für ihn dazu zu früh. Noch scheint es ihm zu gefährlich – gerade jetzt, da die Spannungen im Irak wieder wachsen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2013)

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