Polit-Chaos: Ein letzter Ausweg für Italien

Die Schwere der Aufgabe steht ihm ins Gesicht geschrieben: Enrico Letta soll im heillos zerstrittenen Italien eine „Regierung des Präsidenten“ bilden.
Die Schwere der Aufgabe steht ihm ins Gesicht geschrieben: Enrico Letta soll im heillos zerstrittenen Italien eine „Regierung des Präsidenten“ bilden.(c) REUTERS (MAX ROSSI)
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Enrico Letta aus der zerfallenden Partei der Sozialdemokraten soll eine Große Koalition in Italien führen. "König Giorgio" sieht darin die einzige Möglichkeit für eine Regierung.

Rom. Er hat seinen Stuhl weit vom Tisch zurückgeschoben. Er hat die Arme verschränkt und hört den anderen zu. Aber sein Mund kommt nicht zur Ruhe. Er kaut hohl, die Lippen presst er immer wieder aufeinander, wie einer, der ein wiederholt aufsteigendes Sodbrennen hinunterschlucken will. Oder wie einer, dem gerade ein Trauerfall gemeldet worden ist, der aber auf keinen Fall in Tränen ausbrechen darf. Dann schiebt er sich eine kalte Zigarre zwischen die Lippen, steht auf, geht hinter dem Podium auf und ab, setzt sich wieder hin, hört wieder zu...

Nein, da ist keine Ruhe mehr in Pier Luigi Bersani. Aus dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten in Staatsmannpose wurde ein Bild des Jammers. Statt selbst Premierminister Italiens zu werden, nachdem seine Demokraten bei der Wahl im Februar die Mehrheit im Unterhaus erobert hatten, muss er am Mittwoch zusehen, wie ein anderer, wie sein Parteifreund Enrico Letta von Staatspräsident Giorgio Napolitano den Auftrag zur Regierungsbildung erhält. Zu einer Großen Koalition mit Berlusconi, was Bersani um jeden Preis vermeiden wollte.

Der 46-jährige Letta wiederum fühlt, er habe „eine stärkere Last auf mich geladen, als meine Schultern aushalten“. Er sagt es so, als er am Mittwochmittag, flankiert von zwei langen Kerls der Palastgarde, aus Napolitanos Amtszimmer tritt. Aber gebeugt? Nein, Enrico Letta steht kerzengerade. Da zuckt kein Mundwinkel, und falls Letta nervös ist, sieht es keiner. Auf ihn ist die Wahl des Präsidenten gefallen. Unter ihm als Premier sollen die Parteien ihre Versprechen des „nationalen Zusammenhalts“ einlösen. Sie sollen ihm eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament sichern. Und das bitte schnell, noch im Lauf der Woche.

Vespa statt Dienstwagen

Bisher ist der hochgewachsene, dünne Letta Vize-Chef der Demokraten und einer der wenigen, der praktisch mit allen Strömungen, allen Generationen der zerfallenden Partei kann: mit Bersani ebenso wie mit dem stürmischen Rebellen Matteo Renzi oder der grauen Eminenz Massimo D'Alema. Mit 33 Jahren war Letta, der Intellektuelle, unter D'Alema bereits Europaminister, danach Europaabgeordneter, danach Kanzleramtsminister für Romano Prodi. Und jenseits des eigenen Lagers schätzt ihn sogar Berlusconi. Als Minister fuhr er auf der Vespa durch Rom, den Quirinalspalast erreichte er am Mittwoch am Steuer seines privaten Fiat.

Letta gehört nicht zu jener Dienstwagen- und Selbstbedienungsrepublik, gegen die der Ex-Komiker Beppe Grillo mit seiner Fünf-Sterne-Bewegung so anrennt. Und – seltsam für Italien – seine ganz besonderen Familienbande haben ihn nie kompromittiert. Im Gegenteil, sie gelten in diesem Fall als Ausweis für lagerübergreifende Dialogfähigkeit und Ausgewogenheit: Enrico Letta ist der Neffe von Gianni Letta, dem langgedienten Faktotum Berlusconis. 2006, beim Regierungswechsel von Berlusconi zu Prodi, empfing Enrico die Protokollglocke des Kanzleramtsministers aus den Händen seines Onkels; 2008, als Berlusconi wiederkehrte, gab er sie in dessen Hände zurück.

Einzig Grillo wetterte wie üblich, es bleibe in Rom halt doch wieder alles in der Familie: da setzten sich die üblichen drei, vier Berufspolitiker in den üblichen Hinterzimmern zusammen, um abseits des Volks ihre üblichen Mauscheleien abzuhalten. „Sie teilen die Pöstchen unter sich auf, und in der realen Welt stirbt jede Minute eine Firma.“

Napolitano musste es wieder richten

Die Demokraten hatten gehofft, nach der Wahl im Februar beide – gleichberechtigten – Parlamentskammern zu kontrollieren, schafften aber nur mit Ach und Krach eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Regierung ließ sich mit diesem Resultat zunächst keine bilden, nicht einmal auf einen Nachfolger für Giorgio Napolitano konnte man sich einigen, und so musste dieser selbst, mit seinen knapp 88 Jahren, davon 53 im Parlament, es wieder einmal richten, was die eigentlichen Akteure der Politik, die Parteien, nicht schafften. In ihrer Ausweglosigkeit haben sie ihn ein zweites Mal gewählt.

Wenn es einen Garanten von Stabilität, Anstand und Moral gibt in der italienischen Politik, dann ihn: „König Giorgio“. Bei seiner ersten Wahl, im Mai 2006, nannten sie den gebürtigen Neapolitaner noch „Sir George“, wegen seiner schier britischen Korrektheit – und auch, weil sie ihm zutrauten, ein Buch mit englischen Gedichten verfasst zu haben. Napolitano hat dementiert. Aber England, Amerika, das war immer schon seine (zweite) Welt, ganz ungewöhnlich für einen gelernten Kommunisten, und wenn seine Landsleute ihn sahen, wie er bei Staatsbesuchen in ebenso mühelosem wie geschliffenem Englisch um Vertrauen in sein turbulentes Land warb, dann wussten sie: Das können im politischen Italien nicht viele.

31.000 Euro Pension – monatlich

Nun will „König Giorgio“ mit allen Kräften eine Große Koalition zimmern, das hat er am Mittwoch bestätigt: „Das ist die einzige Möglichkeit für eine Regierung, auf die das Land schon viel zu lange wartet.“ Und nachdem sie Napolitano am Samstag praktisch auf Knien angefleht haben, noch einmal den Staatschef zu machen, müssen sich die Parteien nun seinem Willen beugen.

Immerhin hat das Staatsoberhaupt bei der Bestellung des Premiers nicht auf die Reihe seiner Altersgenossen zurückgegriffen, auf den zweimaligen Premier Giuliano Amato etwa, der als erfahrenster Kandidat galt, der aber – zur Wut der Bürger auf ein System, das so etwas ermöglicht – aus seinen verschiedenen Ämtern das Anrecht auf eine Monatspension von 31.000 Euro besitzt. Kein guter Kandidat in Zeiten wie diesen, und nur weitere Munition für Grillo.

Der erwartet spätestens für den Herbst den Staatsbankrott, zulasten der Rentner und der Angestellten des öffentlichen Dienstes, für die dann kein Geld mehr vorhanden sein werde. Nein, die „weitreichenden Absprachen“ der heraufziehenden Großen Koalition, die will Grillo den Alten überlassen: dem Staatspräsidenten, den er – nach dem antiken Gott des Schlafs – gerne als „Morpheus“ schmäht, und den „untergehenden Parteien“: „Wir bleiben“, teilten die „Grillini“ dem Präsidenten kurz und bündig mit, „die einzige Opposition in Italien.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2013)

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