Leitartikel: Der Terror der "Hinterhof"-Jihadisten

Der Anschlag in London zeigt: Die neue Attentätergeneration kann nicht mehr so viel Schaden anrichten wie früher. Doch schützen kann man sich vor ihnen nicht.

Die Bilder schockieren ganz Großbritannien: Ein Mann mit blutverschmierten Händen spricht seine bizarre Botschaft in eine Handykamera – versucht zu „erklären“, warum er gerade mit seinem Komplizen einen Menschen zu Tode gehackt hat. Und – wie so oft bei besonders grausamen Verbrechen – der Täter fand dafür eine „politische Rechtfertigung“. Im konkreten Fall blieb die freilich ziemlich wirr.

Sind die Attentäter von London politische Extremisten, die sich auf dem „Jihad“ gegen den Westen wähnen, oder einfach völlig entgleiste Persönlichkeiten? Oder eine Mischung aus beidem? Bei dem, was sich nun in den Straßen der britischen Hauptstadt abgespielt hat, ist die Grenze zwischen Terror – also organisierter, ideologisch motivierter Gewalt – und psychopathischem Handeln Einzelner wohl noch verwaschener als bei anderen bisherigen Anschlägen.

Terrorexperten warnen schon lange vor der Gefahr, die von sogenannten einsamen Wölfen ausgeht – also von Gruppen, die nur aus wenigen oder oft sogar nur aus einer einzigen Person bestehen. Diese meist jungen Menschen geraten etwa unter den schlechten Einfluss von Fanatikern, die in Hinterhöfen ihre abstruse Interpretation des Islam predigen. Oder sie radikalisieren sich selbst über das Internet und vermischen ein persönliches Gefühl von Benachteiligt-Sein mit einem paranoiden Weltbild, in dem Angriffe auf die verhasste „westliche Welt“ als Selbstverteidigung einer angeblich unterdrückten „muslimischen Welt“ verbrämt werden.

Auch die Tsarnaev-Brüder, die das Attentat auf den Boston-Marathon verübten, dürften nach bisherigen Erkenntnissen in diese Tätergruppe fallen. Sie brauchen keine großen Strukturen im Hintergrund mehr, um ihre Verbrechen zu verüben. Und das macht es auch so schwer, ihnen schon vor der Begehung ihrer Taten auf die Schliche zu kommen.

Auch wenn im Nachhinein auf zahlreiche Fehler hingewiesen wurde, die den US-Behörden offenbar im Vorfeld unterlaufen sind: Vermutlich hätte es eines Zufalls bedurft, das Komplott der Tsarnaev-Brüder schon vor den tödlichen Explosionen aufzudecken. Vielleicht hätte man mit etwas Glück noch die Sprengsätze entdecken können, die neben dem Zielabschnitt der Marathonstrecke verborgen waren. Vor Männern, die sich einfach Beile und Messer greifen und damit Menschen auf der Straße attackieren, kann man sich im Vorfeld aber so gut wie nicht schützen. Es braucht dafür keine verdächtigen Finanzströme oder groß angelegte Kommunikation zwischen Verdächtigen, auf die die Polizei stößt, keine Bombenwerkstätten, die sie ausheben könnte.

Dieser viel schwerer fassbare „Low Scale“-Terror kleinerer Gruppen hat aber auch Vorteile. So furchtbar die Auswirkungen auch für die jeweils Betroffenen sind, sie bleiben doch geringer als bei früheren Anschlägen – etwa bei 9/11. Es macht einen Unterschied, ob Terroristen Passagierflugzeuge in Hochhäuser steuern so wie in New York, ob Attentäter voll besetzte Vorortezüge in die Luft sprengen so wie in Madrid 2004 – oder ob eine einzelne Person auf der Straße ermordet wird wie jetzt in London.

Zu wirklich großen Anschlägen in den USA und Europa waren al-Qaida und andere jihadistische Terrorgruppen in den vergangenen Jahren zum Glück nicht mehr in der Lage. Das heißt aber nicht, dass etwa al-Qaida Geschichte wäre. Osama bin Laden starb nicht durch US-Kommando-Soldaten in Pakistan, sondern eigentlich schon Monate zuvor auf dem Tahrir-Platz in Kairo, hieß es zu Beginn des Arabischen Frühlings. Nach dem Motto: Nicht eine Elite jihadistischer Kämpfer stürzte Tunesiens und Ägyptens Potentaten, sondern die normalen Menschen auf der Straße. Doch nun erleben Gruppen, die sich zur al-Qaida zählen, in Syrien eine Renaissance: Der schreckliche Bürgerkrieg in dem arabischen Land, in dem sich viele in ihrem Kampf gegen das Regime vom Westen verlassen fühlen, ist der geeignete Nährboden für Extremisten.

Das Thema Terror wird die Amerikaner und Europäer auch noch in den kommenden Jahren beschäftigen. Zu meinen, man könne sich davor hundertprozentig schützen, ist ein Irrglaube. Das haben die Attentate in Boston und London erneut gezeigt. berichte, Seiten 1–3

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2013)

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