Anekdoten statt Statistiken zum EU-Sozialtourismus

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Selbst Großbritannien ist offenbar nicht in der Lage, einen systematischen Missbrauch des britischen Sozialstaats durch eingewanderte EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien zu belegen.

Brüssel. Die Debatte rund um den angeblichen Missbrauch (west-)europäischer Sozialsysteme durch Rumänen und Bulgaren entwickelt sich zum Dauerbrenner. Bei ihrem heutigen Treffen in Luxemburg werden sich die EU-Innenminister erneut mit dem Thema beschäftigen. Der Frontverlauf ist eindeutig: auf der einen Seite Großbritannien, Deutschland, Niederlande und Österreich, die diesen Sozialtourismus unterbinden wollen, auf der anderen Seite die EU-Kommission, deren Aufgabe es ist, die Personenfreizügigkeit für alle Bürger der Union zu gewährleisten.

Vor wenigen Tagen forderte die Kommission die Beschwerdeführer auf, ihre Sorgen mit Zahlenmaterial zu untermauern. Das Innenministerium in Wien winkte bereits gegenüber der „Presse“ ab – man habe sich mit den Deutschen, Briten und Niederländern solidarisch zeigen wollen, obwohl es in Österreich keine Erfahrung mit südosteuropäischen EU-Bürgern gibt, die nur ins Land kommen, um Sozialleistungen zu erschleichen.

Einzelfälle reichen nicht

Wie aus EU-Kreisen zu vernehmen ist, wird auch Großbritannien beim heutigen Treffen keine Statistiken vorlegen, sondern lediglich von einzelnen Sozialbetrugsfällen berichten können – eine Beweisführung, die im Englischen passenderweise „anecdotal evidence“ heißt. Die Kommission machte am Donnerstag allerdings klar, dass ihr bloße Anekdoten nicht reichen werden: „Wir wollen umfassende Beweise für systematischen Sozialbetrug sehen“, sagte eine Sprecherin von Justizkommissarin Viviane Reding. Außerdem sei es im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung ohnehin möglich, jene EU-Ausländer, die es ausschließlich auf Kindergeld etc. abgesehen haben, in ihre Heimat abzuschieben.

Ins selbe Horn stößt Manfred Weber, stellvertretender Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament: „Ich ersuche die Kommunen, das bestehende Recht zu vollziehen“, so der CSU-Abgeordnete. Nachsatz: „Die EU-Kommission sollte aber nicht zu technokratisch agieren“, schließlich habe man in einem Jahr die Europawahl zu schlagen und „Rechtspopulisten in Schach zu halten“. Hinzukommen dürfte wohl auch, dass sowohl in Deutschland als auch in Österreich im Frühherbst gewählt wird. Der deutsche Europaabgeordnete hat jedenfalls einen Reformvorschlag parat: Derzeit sei es nicht möglich, bereits einmal überführte Sozialbetrüger automatisch daran zu hindern, anderswo Sozialleistungen zu beantragen – die betrügerische Absicht müsse jedes Mal aufs Neue bewiesen werden. Weber hält ein Screening im Vorfeld für ein mögliches Gegenmittel, Voraussetzung dafür wäre allerdings ein Informationsaustausch zwischen den Gemeinden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2013)

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