Kroatien: Gleichgültigkeit, Skepsis - und Hoffnung

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Die Kroaten blicken der EU-Zukunft ohne großen Enthusiasmus entgegen. Ein Staat in der Krise gesellt sich zum europäischen Krisenbündnis. Die Wirtschaft sieht ihre Chance ausgerechnet in den einstigen Bruderrepubliken.

V on Einschusslöchern zersiebte Fassaden, eingefallene Hallendächer und aus leeren Fensterhöhlen sprießende Sträucher: Die Folgen des Krieges sind auf dem verödeten Werksgelände des Schuhproduzenten Borovo nördlich von Vukovar unübersehbar. Vor dem Kroatien-Krieg und der Zerstörung der Stadt 1991 sei das damalige Kombinat mit 23.000 Mitarbeitern einer der größten Unternehmen im damaligen Jugoslawien gewesen, berichtet Vorstandsdirektor Hrvoje Merki. Heute beschäftigt der darbende Staatsbetrieb noch 993 Mitarbeiter, sitzt auf einem Berg von Schulden und hat um die Rückgabe einstiger Filialen und Immobilien in den Nachfolgestaaten des zerfallenen Jugoslawien zu streiten.

In Europa würden leider kaum mehr Schuhe produziert, sagt der 38-jährige Betriebschef. Die großen europäischen Ketten, deren Konkurrenz Borovo schon jetzt verspüre, würden fast nur noch Schuhwerk aus Fernost feilbieten. Trotz der Erwartung verstärkten Konkurrenzdrucks nach dem EU-Beitritt blicke er „keineswegs pessimistisch“ in die Zukunft: Energie- und Zulieferkosten dürften schließlich eher sinken. Für Borovo werde es immer einen Platz auf dem Markt geben, gibt sich Merki optimistisch: „Unsere Kunden sind treu und bereit, etwas mehr Geld für in Kroatien gefertigte Qualitätsschuhe zu bezahlen.“


Lustlose Neulinge. Der EU-Optimismus des Fabrikdirektors in Kroatiens „Heldenstadt“ unweit der Grenze zu Serbien wird vom Großteil seiner Landsleute nicht geteilt. Laut der letzten Eurobarometer-Umfrage halten nur 31 Prozent der Kroaten die EU-Mitgliedschaft für eine „gute Sache“ – zwei Drittel blicken ihr mit eher skeptischen oder gemischten Gefühlen entgegen. Beim EU-Referendum Anfang 2012 stimmten zwar zwei Drittel für den Beitritt, doch ging nicht einmal jeder Zweite wählen. Noch geringer war das Interesse an Kroatiens ersten Europawahlen im April: Mit nur 20,8 Prozent Wahlbeteiligung verschafften sich die Kroaten noch vor ihrem Beitritt den Ruf als besonders lustlose EU-Neulinge.

Mit stählernem Händedruck begrüßt Kroatiens bekannteste EU-Kritikerin im Café des „Sabor“, des heimischen Parlaments, in der Zagreber Oberstadt ihre Gäste. Beim EU-Referendum 2012 hatte die frühere Polizistin Ruža Tomašić, Gründerin und einzige Abgeordnete der rechten Splitterpartei HSP-AP, gegen den Beitritt gestimmt. Ein Jahr später wurde die resolute Rechtsauslegerin mit der landesweit zweithöchsten Stimmenzahl zu einem der zwölf künftigen Europaparlamentarier des Landes gewählt. Sie sei keine EU-Skeptikerin, sondern „EU-Realistin“, versichert die blonde Volksvertreterin: „Wir sind für die EU nicht bereit. Denn wir treten nicht gleichberechtigt bei, sondern als armer Bittsteller.“

Kroatiens Exporte deckten nicht einmal die Hälfte der Einfuhren, das Heer der Arbeitslosen habe sich auf fast 400.000 vergrößert und die Wirtschaft liege am Boden, erläutert die 55-Jährige ihre pessimistische Erwartungshaltung. Für die Nutzung der Milliarden an „theoretisch“ bereitstehenden EU-Strukturbeihilfen fehle es an gut entwickelten Projekten, und die Verwaltung des Landes sei „viel zu bürokratisch“. Kroatien sei „immer von jemand anders“ regiert worden, „und nun erwarten wir erneut, dass uns jemand erzählt, was und wie wir etwas tun sollen“, klagt die künftige Europa-Abgeordnete bitter. „Nach dem 1.Juli werden wir sehen, dass unser Lebensstandard nicht vom EU-Beitritt abhängt, sondern von uns. Die Kroaten sind ein fleißiges Volk – und müssen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen.“

Schrille Trillerpfeifen schallen über die Zagreber Ilica-Straße. Am mangelnden Fleiß liegt es nicht, dass die braun gebrannte Näherin Višnja aus dem Dorf Brckovljani schon seit einem Monat gemeinsam mit ihren Kolleginnen täglich demonstrierend durch die Straßen der Hauptstadt zieht. Seit vier Monaten hätten die rund 100 Mitarbeiter des nun für bankrott erklärten Textilunternehmens DTR ihre kargen Gehälter von rund 300 Euro nicht mehr ausbezahlt bekommen, berichtet sie. „Wir haben Anspruch darauf, aber darum schert sich hier niemand.“

Hoffnung auf eine Besserung ihrer Lage durch den EU-Beitritt hegt die arbeitslose Näherin und Familienmutter nicht. „Überall ist Krise, und überall sind die kleinen Leute die Verlierer: Die Arbeitslosigkeit ist hoch – und die Firmen machen in ganz Europa mit den Leuten, was sie wollen.“

In langen Kolonnen pilgern Heerscharen verschwitzter Souvenirjäger in der Altstadt von Dubrovnik über die glatt polierten Steinplatten der Prachtmeile Stradun. Allein von der Anlegestelle der Kreuzfahrtschiffe drängeln sich jährlich eine Million Tagesbesucher durch die engen Gassen, über die steilen Treppen und Stadtmauern von Dubrovnik. Zu den wenigen Einheimischen, die noch innerhalb der Mauern der Altstadt leben, zählt Nikolina Deranja. Kroatiens EU-Zukunft blickt die Pensionsbetreiberin mit eher skeptischen Gefühlen entgegen.

Wenn man krank sei, sollte man sich nicht einer Gruppe anschließen, der es ebenfalls nicht gut gehe, so die Erfahrung der vierfachen Mutter. Der Beitritt erfolge „einfach in einem schlechten Moment“. Besser wäre es für Kroatien gewesen, erst die eigenen Probleme zu lösen. „Ich fürchte, dass die EU uns keine Vorteile bringt, sondern uns nur viel kosten wird. Der freie EU-Markt ist für Exportnationen vielleicht gut. Aber wir haben ohnehin kaum etwas, was wir produzieren und exportieren könnten. „Geschenkt bekommt man nichts – auch nicht von der EU.“

Ein sanfter Wind streicht von der Küste über die Olivenhaine und Weinterrassen von Smokvica. Auf den grünen Anhöhen der Insel Korčula ist vom Rummel am dalmatinischen Festland nur wenig zu spüren. Doch auch in dem verschlafenen Inseldorf leben die Winzer vom Tourismus. Fast seine ganze Jahresproduktion von 40.000 Flaschen werde direkt an Touristen oder an Restaurants in Split und Dubrovnik verkauft, berichtet in der Probierstube des Weinguts Toreta der Winzer Frano Baničević. 70 Kuna, fast zehn Euro, ist der stolze Preis für eine Flasche des beim Erzeuger erstandenen Weins. Nein, Angst um den Absatz habe er nicht, auch wenn die Preise in der EU „ein wenig unter Druck geraten“ könnten, sagt der umgängliche Weinbauer.

Durchs Treppenhaus der politischen Fakultät der Universität Zagreb hasten fröhlich schnatternde Studenten. In seinem Büro versucht Dekan Nenad Zakošek mit ernster Miene zu erklären, warum es in seiner Heimat „überhaupt keinen EU-Enthusiasmus“ gibt. Einerseits sei die „schlechte Stimmung“ Ausdruck der hohen Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise. Anderseits seien die Kroaten schon seit Jahren konstant euroskeptisch.

Die Furcht vor Verteuerungen und vor der EU-Konkurrenz, die die heimische Wirtschaft zu zerstören drohe, sei mit spezifisch historischen Ängsten gepaart: Dass sich Kroatien, welches sich im Krieg mühsam aus dem jugoslawischen Bundesstaat freigefochten hatte, erneut einem starken Staatenbund anschließe, stoße vor allem bei Kroatiens Nationalisten auf Misstrauen.

Persönlich sieht der 55-Jährige im Beitritt jedoch eher Vor- als Nachteile. Studenten und Wissenschaftler profitierten von Erasmus-Programmen und der erhöhten Mobilität. Der Reformdruck durch den EU-Beitritt habe sich schon bei den Verhandlungen positiv bemerkbar gemacht. Wirtschaftlich plagten Kroatien zwar ähnliche Strukturprobleme wie andere südeuropäische EU-Sorgenkinder. Doch der Bankensektor und die Staatsfinanzen seien „noch immer gesund“. „Kroatien geht es nicht gut. Aber wir könnten paradoxerweise relativ schnell die Bedingungen für den Zutritt zur EU-Zone erfüllen.“ Betriebsschließungen seien nicht ausgeschlossen, doch es zeichnet sich eine Entlastung an. „Denn zumindest die skandinavischen Mitglieder öffnen ihre Arbeitsmärkte für Kroaten sofort.“


Hoffnungsmarkt Ex-Jugoslawien. Mit leisem Zischen werden die Kunststoffsohlen in der Werkshalle von Borovo in Vukovar auf die Oberschuhe aufgeschäumt. Nach neuen Absatzmärkten sucht Werksdirektor Merki – allerdings außerhalb der EU. Das Filialnetz solle nach Bosnien, Mazedonien und Serbien ausgeweitet werden, mit der Gründung einer Tochterfirma in Skopje könnte Borevo die einstigen Bruderrepubliken auch nach EU-Beitritt zollfrei beliefern. In fünf Jahren müsse Borevo eine private Firma sein, die ihre Schuhe in ganz Ex-Jugoslawien verkaufe und „endlich positive Resultate erzielt“, umschreibt er die Zielsetzung.

Als „freier Mensch“ könne er es kaum erwarten, dass sein Land endlich der EU beitrete, so Merki beim Abschied. „Hier wurden Kriege immer um Grenzen geführt – um imaginäre Linien, die für mich nicht bestehen.“ Am 1. Juli werde darum am Werkstor die EU-Fahne gehisst. „Endlich werden wir Bürger Europas sein, und auch für uns werden die Grenzen fallen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2013)

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